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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Nervenschwäche

versteht man eine abnorme Reizbarkeit, Schwäche und Ermüdbarkeit des gesamten Nervensystems. Schwäche, Reizbarkeit, Ermüdung sind ja auch dem Gesunden wohlbekannte Zustände; jeder Mensch ermüdet und hat das Bedürfnis, nach einer starken körperlichen Anstrengung zu ruhen, jeder wird erregt durch Ärger, Verdruß, Sorgen u. s. w. Aber diese Zustände sind nur vorübergehende; die Ruhe und Erholung gleicht sie in kurzem aus. Der Neurastheniker dagegen ermüdet schon bei geringen Leistungen oder ist müde, wenn er nichts gethan hat, er wird erregt und verstimmt durch unbedeutende Ereignisse, sorgt sich um Kleinigkeiten und ängstigt sich über harmlose Vorgänge; die Schwäche, die Reizbarkeit und Verstimmung werden durch Ruhe und Erholung nicht beseitigt. Die Ursachen der N. sind sehr mannigfaltig; alles, was das Nervensystem anstrengt, ermüdet, erregt, kann den neurasthenischen Zustand herbeiführen, vorausgesetzt, daß die schädliche Einwirkung längere Zeit hindurch andauert. Im Vordergrund stehen seelische Erregungen, welche sich entweder aus dem Privatleben (Familienverhältnissen) oder der socialen Stellung der Kranken herleiten: unglückliches Familienleben, Sorgen, Not, Kummer sowie geschäftliche Aufregungen, polit. und religiöse Kämpfe sind hier zu nennen. Treffen diese genannten Momente noch mit einer andern Schädlichkeit: der geistigen Überanstrengung, zusammen, so ist es begreiflich, daß das Nervensystem erschöpft, die Ermüdungsvorgänge länger und schließlich dauernd in ihm fixiert bleiben. Diesen geistigen (psychischen) Schädlichkeiten gegenüber spielen die körperlichen (somatischen) nur eine untergeordnete Rolle; Überanstrengungen durch übermäßig betriebenen Sport (Rudern, Radfahren, Bergsteigen u. s. w.) und durch sexuelle Excesse und Ausschreitungen jeder Art, Mißbrauch der Genußmittel (Alkohol, Tabak, Kaffee), schwere mit psychischer Erregung verbundene Erschütterung (Eisenbahnunfälle), langdauernde konsumierende Krankheiten können gleichfalls die Neurasthenie auslösen. Von ganz hervorragender Bedeutung ist schließlich noch die nervöse Anlage (neuropathische Disposition), welche nervöse Eltern auf ihre Kinder übertragen; derartig erblich belastete Personen fallen besonders häufig der N. zum Opfer.

Ebenso mannigfaltig wie die Ursachen sind die Krankheitserscheinungen der N. Ist es doch das ganze Nervensystem, welches sich im Zustande der abnormen Schwäche und Reizbarkeit befindet. Doch lassen sich aus der Summe aller Störungen verschiedene Formen der N. herausschälen, wenn man festhält, daß dieser Einteilung eine vorwiegend praktische Bedeutung zukommt. 1) Die cerebrale Form (Neurasthenia cerebralis) zählt zu ihren häufigsten Symptomen den Kopfdruck; er wird von den Kranken sehr verschieden geschildert, steigert sich häufig zu wirklichem Schmerz mit übermäßiger Empfindlichkeit der Kopfhaut gegen Berührungen (z. B. das Kämmen u. s. w.) und hat die Unfähigkeit zu jeder geistigen Arbeit zur Folge. Beim Lesen und Schreiben stellen sich subjektive Empfindungen der Schwäche und des Druckes im Kopf und in den Augen ein, so daß die Buchstaben undeutlich werden, ineinander verschwimmen oder durcheinander wirbeln. Schwindel und Ohrensausen oder Klingen sind häufige Begleiterscheinungen. Regelmäßig leiden diese Kranken an quälender Schlaflosigkeit, welche eine Erholung und ein Ausruhen verhindert und zugleich durch die subjektive Empfindung, daß die fehlende Nachtruhe das Leiden verschlimmern müsse, schädlich wirkt. Der gesamte Gemütszustand ist fast stets ein deprimierter, die Kranken verzweifeln an ihrer Genesung, fürchten geisteskrank zu werden u. s. w. Zugleich pflegt, wahrscheinlich infolge der mangelhaften Innervation und der Abnahme und Hemmung der Willenskraft (durch unbewußte geistige Vorgänge), eine allgemeine Körperschwäche vorhanden zu sein, die Kranken verlernen das Gehen, Stehen, Sitzen und werden schließlich in den schwersten Fällen so kraftlos, daß sie gefüttert werden müssen. 2) Bei der spinalen Form (Spinalirritation, Neurasthenia spinalis) spielt die Schwäche und Ermüdung im Gehen oder im Gebrauch der Hände eine hervorragende Rolle; geringe Leistungen rufen eine fast unüberwindliche Mattigkeit hervor. Daneben treten in den verschiedensten Körperteilen Schmerzen auf; besonders charakteristisch sind die Kreuzschmerzen. Abnorme Sensationen (Druckgefühle, Ameisenlaufen u. s. w.) werden gleichfalls häufig beobachtet.

Beiden Formen sind noch gewisse Erscheinungen, welche mit den Gefäßnerven in Zusammenhang stehen, gemeinsam. Über Gefühl von rasch aufsteigender Hitze, von heftigem Klopfen im Kopfe, am Hals und Rücken wird häufig geklagt; Hände und Füße sind meist kalt und an den Innenflächen mit Schweiß bedeckt. Der Appetit ist meist gering wegen mangelnder Arbeitsfähigkeit, der Stuhlgang angehalten, die Urinentleerung bisweilen gehemmt. Die nervöse Schwäche des Herzens (Herzschwäche, Neurasthenia cordis, Neurasthenia vasomotoria, Irritable Heart) giebt sich darin kund, daß die Kranken schon nach der geringsten Gemütsbewegung oder Anstrengung oder auch ohne äußern Anlaß, häufig aus dem Schlaf heraus, von Beklemmungen in der Herzgegend und heftigem Herzklopfen befallen werden, die sich nicht selten zu einer wahren Todesangst mit Angstschweiß, Erstickungsgefühl und Versagen der Stimme steigern.

Der Verlauf der N. ist ein chronischer; nur die leichtern Fälle können rascher ablaufen, doch pflegen meist die intelligenten Kranken die leichten Erscheinungen so lange durch ihre Willenskraft vor dem Arzt und der Familie zu verbergen, bis die schwerern Erscheinungen ausgelöst sind und ein völliges Zusammenbrechen erfolgt. Schwankungen sind in dem Verlaufe der N. außerordentlich häufig und für dieselbe geradezu charakteristisch. Der Ausgang der Krankheit ist zweifelhaft, doch pflegt in den meisten Fällen, welche sich unter der Hand eines mit den Nervenkrankheiten Vertrauten, Vertrauen einflößenden Arztes befinden, eine erhebliche Besserung und vollständige Heilung erreicht zu werden.

Die vornehmste Aufgabe der Behandlung der N. ruht zweifellos in ihrer Verhütung. Dies kann dadurch geschehen, daß man der Jugend ein Plus von Kraft und Leistungsfähigkeit durch zweckmäßige Erziehung, Abhärtung und Kräftigung verschafft, so daß sie auch außergewöhnlichen Anforderungen in bestimmten Lebensabschnitten genügen kann.

Die eigentliche Behandlung der N. ist mühevoll, aber auch dankbar. Von hervorragender Bedeutung für die Kur ist der psychische Einfluß des Arztes; ist das Vertrauen des Kranken einmal gewonnen, so fällt es meist nicht schwer, bei der richtigen Auswahl der Mittel (Elektricität, Wasserbehandlung, Massage, Gymnastik verbunden mit stärkender medikamentöser Behandlung und kräftigender Diät) die