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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Österreichisch-Ungarische Monarchie (Litteratur)

Reform der Einkommensteuer, noch vor dem Schlusse des Reichsrats erledigt. Unterdessen war auch ein Wechsel in der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten eingetreten, veranlaßt durch einen Konflikt, in den der Minister des Auswärtigen, Graf Kalnoky, mit dem ungar. Ministerpräsidenten Bánffy geraten war (s. Ungarn). Am 2. Mai erbat Kalnoky seine Entlassung, die er, weil eine gründliche Lösung des Konflikts sich als unmöglich herausstellte, am 15. erhielt. Zu seinem Nachfolger wurde Graf Goluchowski ernannt, der die bisherige auswärtige Politik fortsetzte.

Vor dem Wiederzusammentritt des Reichsrats machte das provisorische Ministerium Kielmansegg einem definitiven Platz. Am 29. Sept. wurde Graf Badeni, der als Statthalter von Galizien das unbedingte Vertrauen des Kaisers erworben hatte, zum Ministerpräsidenten ernannt und zugleich mit der Leitung des Ministeriums des Innern betraut. Graf Welfersheimb behielt auch jetzt das Portefeuille für Landesverteidigung. Minister für Kultus und Unterricht wurde wieder Freiherr von Gautsch, der dieses Amt schon unter Taaffe bekleidet hatte. Die übrigen Minister, Bilinski für die Finanzen, Graf Ledebur für den Ackerbau, Graf Gleispach für die Justiz und Freiherr von Glanz für den Handel, hatten bisher alle, bis auf den Grafen Ledebur, höhere Beamtenstellen bekleidet. Minister ohne Portefeuille (für Galizien) wurde später der Sektionschef Rittner. Auch wurde Jan. 1896 ein eigenes Eisenbahnministerium geschaffen und dem General von Guttenberg übertragen.

Das Ministerium kam zunächst den Czechen dadurch entgegen, daß es den Belagerungszustand in Prag aufhob. In dem vom Ministerpräsidenten bei der Wiedereröffnung des Reichsrates 22. Okt. entwickelten Programm wurde allen berechtigten Ansprüchen eine unparteiische Würdigung versprochen, aber zugleich bemerkt, daß die Regierung zu führen und nicht sich führen zu lassen gedenke. Als nächstes Arbeitsprogramm wurden die Erledigung des Budgets, die Erneuerung der Verträge mit Ungarn und die Wahlreform bezeichnet. Der Entwurf für diese wurde 15. Febr. 1896 im Abgeordnetenhause eingebracht. Ein Antrag auf Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts wurde mit 175 gegen 61 Stimmen abgelehnt. Dagegen wurde das Wahlrecht auch auf das mit dem Dienstherrn in Hausgenossenschaft lebende Gesinde, also besonders auf die Knechte der Grundbesitzer ausgedehnt, und zwar nicht für die Wahl der Wahlmänner, aber doch für die der Abgeordneten die geheime Abstimmung eingeführt. Das so veränderte Wahlgesetz (s. oben, Verfassung, S. 722 a) wurde 7. Mai 1896 mit 234 gegen 19 Stimmen angenommen. Bei der dritten Lesung des Steuerreformgesetzes wurde zugleich der Census in den Kurien der Städte und Landgemeinden von 5 auf 4 Fl. herabgesetzt.

Wie bei der Wahlreform fand das Ministerium auch bei der Erledigung des Budgets und bei zahlreichen andern wichtigen Gesetzentwürfen keine Schwierigkeiten. Teilweise zeigten diese großes Entgegenkommen gegen die Wünsche der Agrarier, andererseits kam die Regierung den Beamten entgegen durch bedeutende Erhöhung der Versorgungsgenüsse der Witwen und Waisen derselben, welche erst jetzt vor drückender Notlage geschützt wurden. Dagegen wurde die Sanktionierung der gleichzeitig beantragten Erhöhung der Bezüge der Staatsbeamten, deren Kosten auf ungefähr 15677000 Fl. veranschlagt sind, von einer Erhöhung der Bier-und Branntweinsteuer abhängig gemacht, so daß die Durchführung dieses Gesetzes noch nicht gesichert ist.

Die schwierigste Aufgabe für die Regierung bleibt die Erneuerung des Ausgleichs mit Ungarn, weil in Österreich alle Parteien darüber einig sind, daß infolge des gewaltigen volkswirtschaftlichen Aufschwungs jener Reichshälfte diese einen bedeutend höhern Prozentsatz der gemeinsamen Ausgaben übernehmen müsse als bisher, während die ungar. Quotendeputation eine solche Forderung der österreichischen rundweg zurückgewiesen und Vorschläge gemacht hat, nach denen Ungarn noch mehr begünstigt würde. Auch die Erneuerung des Handelsbündnisses und die Verlängerung des Bankprivilegiums finden Schwierigkeiten.

Eine Partei, die der Regierung ernstliche Verlegenheiten bereitete, waren die Antisemiten. Seitdem sich diesen die Klerikalen angeschlossen und die Christlichsocialen, wie sie sich nun nannten, an Dr. Lueger ein gewandtes und angesehenes Parteihaupt erhalten hatten, vereinigten sich namentlich in Wien mit ihnen alle unzufriedenen Elemente; auch die Deutschnationalen gingen mit ihnen ein Bündnis ein. Schon im Frühjahr 1895 brachten sie bei den Ergänzungswahlen für den Gemeinderat den größern Teil der Kandidaten durch. Lueger wurde nun zum ersten Vicebürgermeister, und als infolgedessen der liberale Bürgermeister Dr. Grübl sein Amt niederlegte, zum Bürgermeister gewählt. Da trotz mehrfacher Auflösungen des Gemeinderates die Neuwahlen immer größere antisemit. Majoritäten ergaben, und Lueger immer wieder zum Bürgermeister gewählt wurde, so berief ihn der Kaiser, der sich offenbar zur ausgesprochenen Stimmung der großen Mehrheit der Wiener Bevölkerung nicht länger in Opposition setzen wollte, zu sich und sprach die Erwartung aus, daß er freiwillig auf die Wahl verzichten werde. Nachdem dies geschehen war, wurde zum Bürgermeister Gemeinderat Strohbach, Lueger aber zum ersten Vicebürgermeister gewählt, der einer Bestätigung von seiten der Regierung nicht bedarf. Während die Antisemiten und die mit ihnen vielfach Hand in Hand gehenden Deutschnationalen (letztere besonders in den Alpenländern) immer mehr Anhänger finden, verliert die bisher so zahlreiche liberale Partei infolge ihrer schwächlichen Nachgiebigkeit gegenüber der Regierung an Ansehen beim Volke wie an innerer Konsistenz. Erscheint die Zukunft Österreichs in Beziehung auf die innern Zustände ungewiß und vielfach düster, so bietet die auswärtige Politik ein viel erfreulicheres Bild, indem der Dreibund sorgfältig aufrecht erhalten wird und infolgedessen auch der Friede für längere Zeit gesichert erscheint. Auch das Verhältnis Österreichs zu Rußland hat sich in letzter Zeit wesentlich gebessert, was bei dem Besuch des jungen russ. Kaiserpaares in Wien (27. bis 29. Aug. 1896) zu Tage trat, und das Vorgehen der Mächte speciell in der Orientfrage erfolgte im vollkommensten Einverständnis, wobei Österreich in dem Bestreben, den Status quo auf der Balkanhalbinsel aufrecht zu erhalten, mehrfach einen vermittelnden Einfluß ausübte.

Litteratur zur österr.-ungar. Geschichte. Mailáth, Geschichte des österr. Kaiserstaates (5 Bde., Hamb. und Gotha 1834-50); Mayer, Geschichte Österreichs mit besonderer Rücksicht auf Kulturgeschichte (2 Bde., Wien 1874); Krones, Handbuch der Geschichte Österreichs (5 Bde., Berl. 1876-79);