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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Paris (Geschichte)

gleichzeitig verließen sehr viele Personen P. Die Nationalgarde wurde hierdurch fast aller konservativen Elemente beraubt; die Regierungsgewalt verfügte zunächst nur über 12000 Mann Truppen, die nach der Konvention von Versailles von der Entwaffnung ausgeschlossen geblieben waren, während die Socialistenpartei die gut bewaffnete und reichlich mit Munition versehene Nationalgarde, die Freikorps und die Bevölkerung der Arbeiterviertel zur Verfügung hatte. Am 19. Febr. verweigerte die Regierung die weitere Auszahlung des Tagessoldes an jeden in der Nationalgarde dienenden Arbeiter, der nicht den schriftlichen Nachweis bringen konnte, daß er sich vergeblich um Arbeit bemüht habe. Infolge dieser ganz unerfüllbaren Forderung machte sich eine starke Erregung in der Nationalgarde geltend. Sie bemächtigte sich allmählich zahlreicher Geschütze, und als General Aurelle de Paladines, der seit 4. März den Oberbefehl übernommen hatte, diese 10. März zurückholen lassen wollte, wurden die dazu abgesandten Artilleriebespannungen daran gehindert. Am 11. März schloß sich auch die Klasse der kleinen Besitzer dem Aufstand an. Hierzu trug namentlich bei der Beschluß der Nationalversammlung, ihren Sitz nach Versailles zu verlegen, ferner ein Erlaß, der den 13. März als Verfalltag aller während des Krieges gestundeten Wechsel und Schuldforderungen, Mietgelder u. s. w. festsetzte. Gleichzeitig bemächtigte sich der Arbeiterbevölkerung eine stärkere Erregung durch das Bekanntwerden der über ihre Führer Blanqui und Gustave Flourens gefällten Todesurteile sowie durch die Unterdrückung von vier äußerst revolutionären Journalen ("Vengeur", "Cri du peuple", "Père Duchesne", "Mot d'ordre"). Während der folgenden Tage bemächtigten sich die Aufständischen auch der Geschütze des Pariser Hauptwalls (gegen 3000 Stück) und beträchtlicher Munitionsvorräte; ein von Blanqui geleitetes Centralkomitee brachte das Kommando über die Nationalgarde an sich, ließ den Montmartre befestigen, beschuldigte die Regierung einseitiger Parteinahme für die Bourgeoisie und verlangte, daß die Nationalgarde ihre Befehlshaber selbst ernennen sollte. Am 17. März beschloß der Ministerrat auf Thiers' Forderung, die Kanonen den Nationalgarden mit Gewalt abzunehmen; in der Nacht nahmen die Truppen den Montmartre nach leichtem Gefecht und machten hierbei 40 Gefangene, wurden jedoch am Morgen des 18. März durch aus Belleville, La Villette herbeieilende Arbeiterbataillone aus dieser Stellung vertrieben, wobei ein Teil der Truppen zu den Aufständischen überging; die Gefangenen wurden gewaltsam aus dem Regierungsgefängnis befreit, die von ihren Truppen verlassenen Generale Thomas und Lecomte verhaftet und erschossen.

Am 19. März wurde auf allen öffentlichen Gebäuden die rote Fahne aufgepflanzt und auf den 22. März die Wahl einer Commune angesetzt, die 26. stattfand, auch ein Sicherheitsdienst im Innern organisiert, der ganze Hauptwall besetzt; ja es gelang sogar die Besitznahme der Forts Issy, Vanves, Montrouge und Bicêtre. General Vinoy führte den Rest der treu gebliebenen Truppen auf das linke Seineufer und bezog zum Schutz von Versailles und der Nationalversammlung eine Verteidigungsstellung an der Brücke von Sèvres; auch gelang es ihm, die sehr wichtige Forteresse du Mont Valérien noch mit Besatzung zu versehen. Die in P. bestehende Regierung der Commune erklärte in ihren Erlassen, für welche 28. März ein amtliches Organ, das "Journal officiel de la Commune de P.", geschaffen wurde, sie kämpfe für Decentralisation und Selbstverwaltung und wolle Frankreich zu einer Föderativrepublik souveräner Gemeinden umgestalten, die Klassenherrschaft sowie den übermäßigen Einfluß der Kapitalisten beseitigen u. s. w. Am 26. März wurde der Gemeinderat gewählt und führte sogleich die Verpflichtung aller im Alter von 19 bis 40 J. stehenden Männer zum Dienst in der Nationalgarde ein. Ungefähr 200000 Stimmen waren bei den Wahlen abgegeben worden. Außer einigen bekannten Mitgliedern der Internationale, Blanqui, Felix Pyat, Assy, Cluseret, Delescluze, Paschal Grousset, gehörten anfänglich auch die Kommunisten Henri Rochefort und der Dichter Victor Hugo, im übrigen jedoch meist unbekannte Journalisten und Klubredner der Commune de P. an, die sofort Ausschüsse bildete für die Verfolgung der Verdächtigen und die Entlassung ungehorsamer Beamten, sowie den teilweisen Erlaß der seit Beginn der Einschließung entstandenen Mietsschulden und die Verlängerung der Zahlungsfrist für Wechsel verfügte. Die Nationalgarde blieb unter Leitung des Centralkomitees und wurde verstärkt. Ihre Infanterie wurde von Henry, die Kavallerie von Bergeret, die Artillerie von Duval befehligt; später übernahm Cluseret den Oberbefehl über die Infanterie. Am 3. April erfolgte unter Flourens' Führung, der im Kampfe fiel, ein Angriff gegen Versailles, der auf der Hochebene von Châtillon und bei Meudon abgeschlagen wurde und nur in der Richtung auf Neuilly Erfolg hatte. Marschall Mac-Mahon hatte inzwischen den Oberbefehl über die Truppen vor P. übernommen und diese auf 120000 Mann verstärkt. Er schloß P. im Westen und Süden ein, befestigte die Einschließungslinie, zog schweres Geschütz heran und begann planmäßig gegen die Stadt vorzudringen. Im Süden wurden die Forts beschossen und nach heftigen Kämpfen bei Villejuif der Angriff auch gegen die Forts Bicêtre und Montrouge eingeleitet; doch gelang es trotz wiederholter, bei Nacht unternommener Angriffe nicht, die Communards aus den Forts zu vertreiben. Der westl. Teil der Stadt wurde vom Mont-Valérien und den Batterien vor dem Thore von Maillot her heftig beschossen.

Mehrere von der Pariser Kaufmannschaft und anderer Seite unternommene Versuche, zwischen der Regierung in Versailles und der Commune zu vermitteln, scheiterten an den von dieser aufgestellten Forderungen, obgleich Thiers eine allgemeine Amnestie (mit Ausschluß gemeiner Verbrecher) und die vorläufige Fortsetzung der Soldzahlung an die Nationalgarde zu bewilligen bereit war. In P. steigerte sich die Schreckensherrschaft von Tag zu Tag; die gemäßigtern Elemente schieden 19. April aus der Commune aus, selbst Assy und später Cluseret wurden als verdächtig verhaftet. Um die laufenden Kosten aufzubringen, legte man auf die öffentlichen Gelder Beschlag und erpreßte von der Französischen Bank, den Kassen der Eisenbahngesellschaften und reichen Privatleuten große Summen, im ganzen 52 Mill. Frs. Man verhaftete viele zum Frieden mahnende Personen, unter andern den greisen Erzbischof Darboy, unterdrückte alle nicht unbedingt der Commune ergebenen Zeitungen und drohte, die Verhafteten als Geiseln zu behandeln, falls die Regierung gefangene Commu-^[folgende Seite]