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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Physiologie; Physiolŏgie

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Physiologie

in dieser Beziehung durch die freihändlerischen Ansichten Gournays (s. d.) beeinflußt war, volle Freiheit der Bewegung erhalten. Da alle Staatsausgaben schließlich aus dem produit net bestritten werden müssen, so ist es nach den Physiokraten am zweckmäßigsten, den ganzen Staatsbedarf mittels einer einzigen Steuer (impôt unique), nämlich einer Grundsteuer, direkt von denjenigen zu erheben, welche den Reinertrag unmittelbar in Empfang nehmen. Die Einseitigkeit dieser Theorie ist einleuchtend, namentlich hinsichtlich der behaupteten Unproduktivität der gewerblichen und kommerziellen Arbeit; doch bleibt sie von großer histor. Bedeutung, einesteils als erster Versuch einer theoretischen Gesamtauffassung des volkswirtschaftlichen Prozesses und andererseits wegen des außerordentlich bedeutenden Einflusses, welchen sie auf Adam Smith (s. d.) und sein System ausgeübt hat. Eine Sammlung der Schriften Quesnays und anderer Physiokraten wurde als Teil der Guillauminschen «Collection des principaux économistes» von Daire herausgegeben als «Physiocrates» (2 Bde., Par. 1846;); eine neuere Ausgabe der Werke Quesnays rührt von Oncken her (Frankf. und Par. 1888).

Physiolŏgie (grch.), ursprünglich gleichbedeutend mit Physik, Naturlehre, bezeichnet die Wissenschaft von den regelmäßigen Funktionen in den sog. belebten Körpern oder Organismen, den Tieren und Pflanzen. Alle denselben zukommenden eigentümlichen Funktionen lassen sich im wesentlichen als regelmäßige Veränderungen ihrer chem. Bestandteile, der in ihnen wirkenden physik. Kräfte und ihrer morpholog. Formelemente betrachten. Während man früher den Grund dieser Eigentümlichkeiten in besondern, den Organismen eigentümlichen vererbbaren Fähigkeiten suchte, deren Summe man als Lebenskraft (s. d.) bezeichnete, haben die neuern Untersuchungen zu der sichern Erkenntnis geführt, daß in den belebten Organismen dieselben physik. und chem. Kräfte nach denselben Grundgesetzen wirken, die auch in der unorganischen Natur sich kundgeben. Dies im einzelnen des Genauern nachzuweisen, ist Aufgabe und Ziel der P. Die P. trennt man nach der Verschiedenheit ihrer Objekte in die Tier- oder Zoophysiologie, deren Gegenstand die Erforschung der normalen Funktionen des tierischen und menschlichen Körpers bildet, und in die Pflanzen- oder Phytophysiologie, die Lehre von den Verrichtungen der lebenden Pflanze und ihrer einzelnen Teile.

Die Tierphysiologie, oft auch nur P. genannt, zerfällt wieder in die allgemeine P., die sich mit Ermittelung der allgemeinen Lebensfunktionen und der durch dieselben erzeugten Wechselwirkungen der organischen Wesen beschäftigt, und in die specielle P., die von den einzelnen Lebensverrichtungen handelt und eingehend die vegetativen Funktionen des Tierkörpers, welche dieser mit der Pflanze gemein hat (Ernährung, Atmung, Fortpflanzung), sowie die animalischen Verrichtungen, die nur dem Tiere zukommen (Muskelthätigkeit, Sinnesempfindungen, psychische Thätigkeiten), erforscht. Die vergleichende P. beschäftigt sich mit den Lebenserscheinungen des gesamten Tierreichs. Die Psychophysik (s. d.), die physiol. Erforschung der seelischen und geistigen Thätigkeiten, bildet den vermittelnden Übergang von der P. zur Psychologie (s. d.). Als Methoden und Hilfsmittel benutzt die P., deren Grundlage hauptsächlich die Physik, Chemie und Anatomie einschließlich der Gewebelehre bilden, vorzugsweise die Beobachtung, mit der jede Naturwissenschaft zu beginnen hat, und das physiol. Experiment, das unter den verschiedensten Modifikationen an Mensch und Tier angestellt wird und wegen seiner Wichtigkeit und erfolgreichen Handhabung der ganzen Wissenschaft den Namen der Experimentalphysiologie verschafft hat.

Die Pflanzenphysiologie hat die Aufgabe, alle diejenigen Vorgänge in den lebenden pflanzlichen Organismen zu untersuchen, die sich bei der Ernährung, beim Wachstum und bei der Fortpflanzung derselben abspielen. Da die erstern beiden Prozesse wesentlich chem. oder physik. Natur sind, so muß die P. ihre Aufgaben vorzüglich unter Zuhilfenahme von Chemie und Physik zu lösen suchen. Zwar wird auch die Fortpflanzung auf solche Vorgänge zurückzuführen sein, doch ist dies zur Zeit noch unmöglich. Immerhin kann man von einer P. der Fortpflanzung reden, denn auch die Beobachtung der dem eigentlichen sexuellen Akte vorausgehenden Erscheinungen der Bestäubung, Befruchtung sowie die Weiterentwicklung der befruchteten Eizelle in ihren ersten Stadien sind nicht bloß Gegenstand der Morphologie, sondern auch der P., insofern dabei stoffliche Veränderungen oder Einwirkungen äußerer Kräfte u. dgl. stattfinden. Die Betrachtung der mannigfachen Einrichtungen, die bei Blütenpflanzen zur Herbeiführung des Insektenbesuchs oder zur Verbreitung des Pollens durch den Wind vorhanden sind, ebenso die Beweglichkeit der Spermatozoiden bei den niedern Pflanzen sowie das Öffnen der Antheridien und Archegonien bieten nicht nur für die Morphologie, sondern auch für die P. bestimmte Fragen. Auch die Erzeugung von Bastarden und die dabei auftretenden eigentümlichen Erscheinungen sind Gegenstand der physiol. Forschung. (S. Bastardpflanzen.)

Mehr physik. und chem. Prozesse kommen in Betracht bei den übrigen Gebieten der P., deren Aufgabe es ist, die Ernährung und das Wachstum sowie die Bewegungserscheinungen der Pflanzen zu untersuchen. Die Ernährung der Pflanzen besteht hauptsächlich darin, daß gewisse Stoffe aus der Luft und dem Boden, oder bei Wasserpflanzen aus dem Wasser aufgenommen und verarbeitet werden. Es handelt sich nun zunächst darum, festzustellen, welche Stoffe überhaupt in die Pflanze gelangen, welche davon unbedingt notwendig, welche entbehrlich sind und schließlich welche eine schädliche Wirkung auf das Gedeihen der einzelnen Pflanze ausüben. (S. Ernährung der Pflanze.) Die beiden wichtigsten chem. Prozesse, die sich bei der Ernährung der Pflanzen abspielen, sind die Assimilation (s. d.) im weitern Sinne und die Atmung (s. d.). Im engsten Zusammenhang mit der Verarbeitung der aufgenommenen Nährstoffe steht die Wanderung innerhalb des Pflanzenkörpers (s. Stoffwanderung in der Pflanze).

Ferner ist es Aufgabe der P., alle Bewegungserscheinungen zu untersuchen, die einzelne Teile der Pflanzen ausführen; es gehören hierher vor allem sämtliche Wachstumsprozesse, die Keimung (s. Keim), die verschiedenen als Heliotropismus (s. d.) und Geotropismus (s. d.) bezeichneten Richtungsbewegungen, die sog. Nutationen (s. d.), die Bewegungen, die windende Pflanzen und Ranken ausführen, die Reizbewegungen vieler Blätter, Staubgefäße und anderer Organe, die Bewegungen der Spaltöffnungen u. s. w. (Vgl. außer den speciellen Artikeln Pflan- ^[folgende Seite]