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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Preußen (Geschichte 1861-88)

irgendwo überwogen. Allerdings konnte die Reform sich zunächst nur auf die östl. Provinzen erstrecken, wo die gleichen socialen Verhältnisse herrschten und in dem Großgrundbesitz ein zur Übernahme der Selbstverwaltung besonders befähigtes Element vorlag. Posen wurde von vornherein ausgeschlossen von der Reform, um nicht dem poln. Element eine unvergleichliche Stärkung zuzuführen. Der Minister Eulenburg legte zunächst Ende 1871 einen neu bearbeiteten Entwurf zur Kreisordnung (s. d.) vor, der die Polizeigewalt der Gutsherren und die Institution der Erbschulzen beseitigte und eine neue Behörde in den aus Wahlen der Kreistage hervorgehenden und vom Landrat geleiteten Kreisausschüssen bildete. Das wesentlich Neue war dabei, daß diese Kreisausschüsse einen Teil der bisherigen Funktionen der Bezirksregierungen übernahmen, zugleich aber auch als Verwaltungsgerichte erster Instanz fungierten. Das Abgeordnetenhaus nahm den Entwurf ohne wesentliche Änderungen (März 1872) an, aber das Herrenhaus lehnte 31. Okt. den Entwurf ab. Sogleich wurde der Landtag 1. Nov. geschlossen und in der 12. Nov. neu eröffneten Session ein neuer, mit Vertrauensmännern des Abgeordnetenhauses inzwischen vereinbarter Entwurf vorgelegt, den nun, nachdem ein Pairsschub von 25 neu ernannten Mitgliedern erfolgt war, auch das Herrenhaus 7. Dez. mit 116 gegen 91 Stimmen genehmigte. Wie es scheint, kam nun auch im Ministerium die Frage einer Reform des Herrenhauses zur Sprache, und die dabei sich ergebenden Reibungen mochten außer der Überlastung mit Geschäften der Grund sein, daß Bismarck sich 21. Dez. 1872 vom Präsidium des Staatsministeriums entheben ließ. Am 1. Jan. 1873 wurde Roon zum Ministerpräsidenten und ihm zur Seite General von Kameke zum zweiten Chef der Armeeverwaltung ernannt. Auch als Roon bald wieder (9. Nov.) zurücktrat, übernahm Bismarck nur in der Weise wieder das Präsidium, daß ihm der Finanzminister Camphausen als Vicepräsident zur geschäftlichen Entlastung zur Seite gestellt wurde. Die Enthüllungen Laskers im Landtage über die Mißstände im Eisenbahnkonzessionswesen und die Einsetzung einer Untersuchungskommission führten 13. Mai 1873 zur Entlassung des Handelsministers Grafen Itzenplitz; sein bisheriger Unterstaatssekretär Achenbach wurde sein Nachfolger. Eine neue Provinzialordnung für die östl. Provinzen (mit Ausschluß von Posen), die auf denselben Principien wie die Kreisordnung beruhte (s. Provinzialordnung), erhielt nach längern Verhandlungen zwischen Abgeordneten- und Herrenhaus 29. Juni 1875 Gesetzeskraft. Das Gesetz über die Verwaltungsgerichte vom 3. Juli 1875 organisierte den Instanzenzug, der vom Kreisausschuß zu dem ebenfalls aus Beamten und gewählten Mitgliedern bestehenden Bezirksverwaltungsgericht und von hier zu dem richterlich völlig unabhängigen Verwaltungsgericht gehen sollte. Das Gesetz über die Dotation der Provinzen vom 8. Juli 1875 gewährte denselben Unterstützungen für provinziale Zwecke. Das sog. Kompetenzgesetz vom 26. Juli 1876 regelte im einzelnen die Zuständigkeit der neuen Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichtsbehörden. Über eine von der Regierung 9. März 1876 vorgelegte Städteordnung konnten indes die Verhandlungen des Landtags eine Einigung erzielen.

Auch auf dem Gebiete der evang. Kirche galt es, eine organische Gliederung durch eine Synodalverfassung mit stärkerer Heranziehung des Laienelements herzustellen. Eine Kirchengemeinde- und Synodalordnung für die östl. Provinzen wurde 10. Sept. 1873 auf Grund des landesherrlichen Kirchenregiments erlassen. Teile derselben wurden auch vom Landtage Mai 1874 genehmigt. Dann trat 24. Nov. 1875 die außerordentliche Generalsynode zusammen und beriet den ihr vorgelegten Entwurf einer Generalsynodalordnung, die dem Laienelement noch stärkern Einfluß einräumte. Am 20. Jan. 1876 wurde sie als Kirchengesetz veröffentlicht und erhielt dann, soweit es dessen bedürfte, auch die Zustimmung des Landtags.

Die Verwaltungsreform war durch die Lage der Finanzen ungemein begünstigt worden. Der preuß. Staatsschatz von 30 Mill. Thlrn. konnte, da das Reich sich jetzt aus der Kriegskontribution einen besondern Reichskriegsschatz bildete, durch Gesetz vom 18. Dez. 1871 aufgehoben und zur Schuldentilgung benutzt werden. Ebenso wurden auch die sonstigen Überschüsse sowie ein Teil der an Preußen fallenden franz. Kontributionsgelder vornehmlich zur Schuldentilgung und zu Eisenbahnbauten verwandt. Es war freilich bald vorauszusehen, daß diese günstigen Jahre nicht anhalten würden, und Bismarck drängte aus diesem Grunde seit 1876 auf Steuerreformen, die dem Reiche größere Mittel zuführen sollten. Die Untersuchungen der Eisenbahnzustände und der Wirrwarr im Tarifwesen brachten die Frage der Eisenbahnen in Fluß und regten bald den Gedanken, ein Reichseisenbahnsystem zu begründen, an. Die preuß. Regierung ließ sich durch das Gesetz vom 6. Juni 1876 vom Landtage ermächtigen, sämtliche Staatseisenbahnen an das Reich zu verkaufen. Aber an dem Widerstande der mittelstaatlichen Regierungen scheiterte der Plan, und nun ging Preußen energisch daran, sein eigenes und bisher sehr unvollständiges und zersplittertes Staatsbahnsystem auszudehnen.

Deutlich hebt sich eine mit 1878 beginnende neue Periode innerer, wesentlich wirtschaftlicher Reformen ab. Im März erfolgte die Entlassung der Minister Eulenburg, Achenbach und Camphausen. Graf Botho zu Eulenburg-Wicken wurde an Stelle seines Vetters Minister des Innern, Maybach Handelsminister und Hobrecht Finanzminister. Zum Vicepräsidenten des Staatsministeriums wurde der bisherige Botschafter zu Wien, Graf zu Stolberg-Wernigerode, ernannt. Mit diesen Ernennungen war sowohl die Überbürdung des Fürsten Bismarck beseitigt, als auch das Ministerium mehr in dessen Sinne gestaltet. Der Reichstag wurde nun der Schauplatz der steuer- und wirtschaftspolit. Kämpfe Bismarcks, die sich zumal nach den Attentaten Hödels (11. Mai 1878) und Nobilings (2. Juni 1878) auf den Kaiser mit den Problemen der socialen Reform und der innerlichen Bekämpfung der Socialdemokratie auf das engste verflochten. (S. Deutschland und Deutsches Reich, Bd. 5, S. 206.) Für P. ergab sich auf wirtschaftlichem Gebiete zunächst die Aufgabe, das Staatsbahnsystem durchzuführen. Dann wurde mit Genehmigung des Landtags ein besonderes Ministerium der öffentlichen Arbeiten vom Handelsministerium abgetrennt und Maybach unterstellt (14. März 1879). Sein Programm war, zunächst möglichst alle Hauptlinien zu erwerben und dann das Netz der Sekundärbahnen auszubauen. Glänzend gelang dies unter seiner Leitung. 1879 wurde die strategisch wertvolle Linie Berlin-Wetzlar eröffnet und mit dem Ankauf anderer wichtiger Linien begonnen. Bereits 1880 deckten die