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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Ranke (Leopold von)
tes; 22. März 1805 erhob ihn der König von Preu-
ßen in den erblichen Adelstand. Seine akademische
Thätigkeit schloß er im Herbst 1871, arbeitete aber
noch im hohen Greisenalter mit ungeschwächter Kraft
an der "Weltgeschichte", die er 1880 begann. Am
29. Sept. 1867 wurde er zum Kanzler des Ordens
poul Is n^i'ito, am Tage des 50jäbrigen Jubi-
läums seiner Mitgliedschaft der Akademie der
Wissenschaften (13. Febr. 1882) zum Wirkl. Geheim-
rat ernannt. Er starb 23. Mai 1886 in Berlin.
Tbucydides und Nicbuhr einerseits, die Sckrif-
ten Lutbers andererseits hatten seinen durch gründ-
liche klassische Studien schon befruchteten Geist
zuerst auf geschichtliche Gegenstände gelenkt. Sein
erstes, sofort Aufsehen erregendes Werk, die "Ge-
schichte der roman. und german. Volker von 1494
bis 1535" Md. 1, Verl. 1824; 3. Aufl., Lpz. 1885)
war im Stil von fremden Vorbildern, namentlich
Joh. von Müller, noch stark beeinflußt, zeigt aber
schon überraschend den originalen Kern R.s. Er
wollte nicht richten und lehren, sondern bloß zeigen,
"wie es eigentlich gewesen", und das auf Grund
einer strengen Prüfung des Quellenmaterials nach
seiner Zuverlässigkeit und Originalität, ein Ver-
fahren, dessen Grundsätze er in dem Anbang "Zur
Kritik neuerer Geschichtschreiber" praktisch durch die
Kritik mehrerer, namentlich ital. Geschichtschreiber
(Guicciardini u. s. w.) darlegte. Diese Quellenkritik
war ihm aber nur das Mittel zu einer möglichst leben-
digen und bis auf die letzten wirksamen Kräfte zurück-
gebenden Auffassung des Gewordenen. Ein balb
philosophisches, halb ästhetisches Interesse leitete
ihn dabei; in seinen frühern Werken überwog das
letztere, die Freude an den farbenreichen Begeben-
heiten und Persönlichkeiten, die er mit glänzender,
oft geradezu dichterischer Kunst wiedergab. Daneben
aber hatte er schon früh (1826) die Absicht, "die
Mär der Weltgeschichte aufzufinden", in der univer-
salen Verknüpfung der bestimmenden Ereignisse zu-
gleich ihren wesentlichen Kern zu ermitteln. Eine
gewisse Verwandtschaft mit der Hegelscken Pbilo-
sophie, welche in der Weltgeschichte die Entwicklung
des göttlichen Geistes nachweisen wollte, liegt vor,
aber von ihrer deduktiven und konstruierenden Art
aufs stärkste abgestoßen, vertrat N. immer den in-
duktiven Charakter der modernen Wissenschaft, in-
dem er stets von dem Besondern ausging, zugleich
es aber in seinen allgemeinen Zusammenhängen
erfaßte. Die leitenden Tendenzen der verschiedenen
Jahrhunderte, die Ideen, wie er sie gern, fich mit
Wilh. von Humboldt berührend, nannte, gewannen
dabei in seiner Betrachtung eine immer steigende
Bedeutung, so daß in seinen spätern Werken das
freie handeln der Persönlichkeit etwas zurücktritt.
Seine vielgerühmte, zuweilen auch als angebliche
Gesinnungslosigkeit getadelte Objektivität in der
Beurteilung der polit. und kirchlichen Bewegungen
der Neuheit, durch die er sich von der gern nach sitt-
lichen Maßstäben urteilenden Richtung Schlossers
unterschied, hängt damit zusammen. Jede Epoche,
meinte er, habe ihren Wert, ihren eigentümlichen
Genius für fich, "vor Gott erscheinen alle Genera-
tionen der Menschheit als gleichberechtigt, und so
muß auch der Historiker die Sache ansehen" (1854).
Darum leugnete er auch einen Fortschritt der Mensch-
heit in intellektueller und moralischer Hinsicht. Mit
seiner ästhetischen Freude an der konkreten Persön-
lichkeit und Handlung hing es auch zusammen, daß
er die poUt.-diplomat. Geschichte bevorzugte, die
Zustände der breitern Volksmassen nur streifte und
die Wirtschaftsgeschichte vernachlässigte.
Am meisten Kulturgeschichte enthielt wohl sein
zweites größeres Werk, die "Fürsten und Völker von
Südeuropa im 16. und 17. Jahrh." (Bd. 1, Verl.
1827; 4. Aufl., Lpz. 1877, u. d. T. "Die Osmanen
und die span. Monarchie im 16. und 17. Jahrh."),
zu dem ihm die von ihm zuerst ausgiebig verwerte-
ten Relationen der venet. Gesandten den Stoff ga-
ben. Daneben schrieb er auf Grund serb. Volks-
lieder und -Überlieferung das packende und plastische
Buch über "Die serb. Revolution" (Hamb. 1829;
u. d. T. "Serbien und die Türkei im 19. Jahrh."
völlig umgearbeitet, Lpz. 1879). Weitere Früchte
seines Aufentbalts in Italien (1827-31) waren:
"Die Verschwörung gegen Venedig 1618" (Berl.
1831; u. d. T. "Zur venet. Geschichte", Lpz. 1878)
und "Zur Geschichte der ital. Poesie" (Vorlesungen,
Verl. 1837).
Nach seiner Rückkehr unternahm R. mit Savigny
und andern Gleichgesinnten eine "Histor.-polit. Zeit-
schrift" (1832-36), in der er gegen den polit. Libe-
ralismus der Iulirevolution Front machte, ohne
deswegen in die ertrem feudale Staatsauffassung
der Reaktion zu verfallen. Zugleich begann er jetzt
die Reihe seiner eigentlichen Hauptwerke mit "Die
rö'm. Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im 16.
und 17. Jahrh." (3 Bde., Verl. 1834-37; 9. Aufl.
u. d. T. "Die röm. Päpste in den letzten vier Jahr-
hunderten", Lpz. 1889), ein Werk, welches in der
ganzen Kulturwelt wegen der Unbefangenheit in
der Würdigung der welthistor. Bedeutung des
Papsttums und wegen der klaren Scheidung der
mannigfach ineinander wirkenden polit. und reli-
giösen Momente das allgemeinste Auffehen erregte.
Dieselben Vorzüge zeigt fast in noch höherm Grade
die "Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reforma-
tion" (6 Bde., Berl. 1839-47; 6. Aufl., Lpz. 1880
-81). Dann folgte das weniger günstig aufgenom-
mene, aber auch an neuen Auffassungen reiche Werk
"Neun Bücher preuß. Geschichte" (3 Bde., Verl.
1847-48; neue, durch eine große Einleitung über
die Genesis des prcuß. Staates vermehrte Aufl.
u. d. T. "Zwölf Bücher preuß. Geschichte", 5 Bde.,
Lpz. 1874; vcrmebrt 1878-79). Sodann wandte er
sich wieder, von feinem Lieblingsgedanken, der Ein-
heit der roman.-german. Kulturentwicklung geleitet,
feinem frühern Studiengebiete zu mit der "Franz.
Geschichte, vornehmlich im 16. und 17. Jahrh."
(5 Bde., Etuttg. 1852 - 61; 4. Aufl., 6 Bde., Lpz.
1876-77), der sich die "Engl. Geschichte im 16.
und 17. Jahrh." (Bd. 1-6, Verl. und Lpz. 1859
-67; 3. Aufl., 9 Bde., Lpz. 1877-79) anschloß.
Diese wie die folgenden Werke, durchweg meister-
haft durch den weiten Blick, die Kunst der Darstel-
lung und die Behendigkeit und Sicherheit der kriti-
schen Forschung, haben gegenüber den frühern einen
etwas kühlern und abstraktcrn Charakter. zu den
lebendigsten gehören noch: "Zur deutschen Geschichte.
Vom Rcligionsfrieden bis zum Dreißigjährigen
Kriege" (Lpz. 1868; 3. Aufl. 1888) u^ die durch
geniale Intuition hervorragende "Geschichte Wal-
lensteins" (ebd. 1869; 4. Aufl. 1880). Weitere Werke
R.s sind: "Der Ursprung des Siebenjährigen Krie-
ges" (Lpz. 1871), "Die deutschen Müchteund der
Fürstenbund. Deutsche Geschichte von 1780 bis
1790" (2 Bde., ebd. 1872; 2. Aufl., ebd. 1875),
"Abhandlungen und Versuche" (ebd. 1872; 2. Aufl.,
ebd. 1877; Neue Sammlung, hg. von Dove und