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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Reformation

alter zurück. Die unbeschränkte Gewalt, welche die Päpste als "Statthalter Gottes auf Erden" über alle christl. Fürsten und Völker beanspruchten; die Politik, mit der sie alle polit. Händel im Interesse ihrer Machterweiterung ausbeuteten; die ausschließliche Jurisdiktion, die sie sich über alle Personen und Güter der Geistlichkeit in allen Ländern beilegten; die endlosen Abgaben, die sie in allen Ländern erhoben und immerfort mehrten; der Übermut der Geistlichen und Mönche dem Laienstande gegenüber, die geringe Bildung des geistlichen Standes und die Verweltlichung seiner Lebensweise: diese Gebrechen waren in verschiedenen Perioden der frühern Geschichte Gegenstand des Angriffs gewesen. Seit der Wegführung der Päpste nach Avignon und dem großen Schisma der Kirche (s. Papst, Bd. 12, S. 874 a) hatte sich der Verfall mit außerordentlicher Raschheit ausgebreitet und drohte alle kirchliche Ordnung und Sitte aufzulösen. Diese Mißstände riefen zu Anfang des 15. Jahrh. die Konzilien zu Pisa, Konstanz und Basel hervor, die sich außer der Abstellung des Schismas auch die Reform der Kirche "an Haupt und Gliedern" zur Aufgabe gesetzt hatten. Diese Reformversuche, aus dem Schoße des Klerus selbst hervorgegangen, sollten nur die Kirchenautorität vom Papst auf die Konzilien übertragen; sie gingen über die äußere Verfassung und Disciplin nicht hinaus und berührten weder das kirchliche Dogma noch das Princip der ganzen Kirchenautorität. Es gelang den Päpsten, auch die schon notgedrungen zugesagten Reformen größtenteils wieder zu vereiteln. Indessen bereitete sich eine allgemeine Umgestaltung des ganzen mittelalterlichen Lebens vor. An die Stelle des alten Lehnswesens trat die Erstarkung des Landesfürstentums, dessen polit. Interessen oft mit den päpstl. Ansprüchen in Widerstreit kamen; der Verfall des Rittertums, das Emporkommen der Zünfte in den Städten und die dumpfe Gärung im Bauernstande bedrohten die Grundlagen der bisherigen socialen Ordnung. Zugleich erschütterte die Ausbreitung der Wissenschaften durch die nicht lange vorher erfundene Buchdruckerkunst das mönchische und kirchliche Monopol mittelalterlicher Bildung.

In diese Gärung fiel der Streit über den Ablaß, den der Augustinermönch Martin Luther (s. d.) begann. Der prachtliebende Papst Leo X. hatte 1514-16 in den nordischen Reichen Ablaß verkündigen lassen, dessen Ertrag zu einem Kriege gegen die Türken und zur Erbauung der Peterskirche in Rom bestimmt sein sollte. Dieser Ablaß wurde 1517 im Erzbistum Magdeburg durch den Dominikanermönch Johann Tezel (s. d.) ausgeboten, der mit den Ablaßzetteln einen förmlichen Handel trieb. Da geschah es, daß einige Bürger zu Wittenberg, als sie bei Luther zur Beichte kamen, die von Luther ihnen auferlegte Buße nicht leisten wollten, indem sie von Tezel erkaufte Ablaßzettel vorzeigten. Dies war der nächste Anlaß zu den berühmten 95 Streitsätzen (Thesen) über Buße und Ablaß, die Luther 31. Okt. 1517 an die Thür der Schloßkirche zu Wittenberg anschlagen ließ mit dem Erbieten, dieselben gegen jedermann in öffentlicher Disputation zu verteidigen. Die Streitsätze waren gegen Tezel gerichtet, und Luther behauptete darin, daß der Papst nicht die Strafen der Sünden im Jenseits (Fegefeuer), sondern nur die nach den Kirchengesetzen für Sünden auferlegten Büßungen (die kanonischen Strafen) erlassen könne; daß aber die Vergebung der Sünde bei Gott und der Erlaß der jenseitigen Pein von dem Bußfertigen nicht durch Bußwerke, sondern durch den Glauben an die durch Christi Tod geleistete Genugthuung erlangt werde. Dabei warf Luther am Schlusse die Frage auf, warum doch der Papst, wenn er die Macht habe, von der Pein des Fegefeuers zu befreien, diese Wohlthat nicht allen Gläubigen und umsonst zu teil werden lasse, wie dieses die Pflicht der christl. Liebe unstreitig von ihm fordere. Mit diesem Angriff wurde nicht nur die geltende Praxis des röm. Kirchentums angetastet, sondern auch von Luther, der sich an der Heiligen Schrift und an Augustins strenger Lehre gebildet hatte, der tiefe Gegensatz angedeutet, in dem sich eine ernste Frömmigkeit zu dem ganzen veräußerlichten Kirchenwesen befinden mußte. Die Art, wie Rom den kühnen Mönch zum Schweigen zu bringen suchte, schürte nur das Feuer. Der Federkrieg, den Tezel, Eck und Sylvester de Prierias gegen Luther führten, bestärkte diesen nur in seinem Gegensatze gegen das kirchliche Satzungswesen, und ebenso erfolglos war die hochfahrende Art, mit der Kardinal Cajetanus (1518) Luther zur Ruhe zu bringen versuchte. Der durch den päpstl. Kammerherrn K. von Miltitz vermittelte Waffenstillstand ward bald durch die Kampfesungeduld der Gegner gebrochen. Die Disputation zu Leipzig (Juni 1519) zwischen Luther, Eck und Karlstadt brachte den Gegensatz auf seinen schärfsten Ausdruck: Luther sah sich gedrängt, die Konsequenzen seiner Sätze zu ziehen, die unbedingte Autorität des Papstes und der Konzilien und damit das ganze Princip des röm. Katholicismus zu verwerfen. Als alleinige Autorität galt ihm fortan nur die Heilige Schrift. Hiermit hatte die R. ihr Losungswort erhalten.

Luther begann den Kampf gegen die röm. Kirchenautorität nunmehr mit aller Macht und Leidenschaft. Er schrieb 1520 die Schriften "An den christl. Adel deutscher Nation", "Von der babylon. Gefangenschaft der Kirche" und "Von der Freiheit eines Christenmenschen". In der ersten forderte er mit Übergehung der Fürsten den Kaiser und den deutschen Adel auf, selbst Hand anzulegen an eine durchgreifende "Besserung des geistlichen Standes"; in der zweiten griff er die päpstl. Gewalt selbst und die das Evangelium verdunkelnden Satzungen der Kirche mit den schärfsten Waffen an. Er verkündigte an Stelle der hierarchischen Ordnung das allgemeine Priestertum aller Getauften und verwarf die Lehre von der Wandlung und dem Meßopfer, die Siebenzahl der Sakramente, die Verweigerung des Kelchs an die Laien im Abendmahl. Desgleichen bekämpfte er die sündentilgende Kraft des Fastens, der Ehelosigkeit, des Mönchslebens und der Klostergelübde, das priesterliche Meßopfer, die Seelenmessen, das Fegefeuer, die Letzte Ölung u. s. w. Vergebens bot Rom nun seine letzten Waffen gegen ihn auf. Luther zur Seite stand die neue humanistische Bildung, durch Melanchthon, Hutten u. s. w. vertreten, und der wiedererwachte Unwille der deutschen Nation gegen die röm. Kirchenpolitik und Finanzkunst sowie gegen geistliche und weltliche Unterdrückung, wie er durch die Erhebung der Bauern (s. Bauernkrieg) zum Ausdruck kam. Die röm. Bannbulle vom 15. Juni 1520 wurde von Luther in Wittenberg öffentlich verbrannt. Kaiser Karl V., der ein gläubiger Anhänger der Kirche war und überdies aus polit. Motiven damals zu Rom hielt, beschied den Reformator auf den Reichstag nach Worms.