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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Sicilien (Königreich beider)

Nach ihrem Sieg bei Rieti (7. März 1821) rückten die Österreicher, ohne mehr ernstlichen Widerstand gefunden zu haben, 24. März in Neapel ein, um dann auch Calabrien und Apulien zu besetzen. Gegen die nicht entflohenen Carbonari und Konstitutionellen begannen Ferdinands neue reaktionäre Minister eine blutige Verfolgung. Gleichzeitig hatte das Land unter Erdbeben, dem Ausbruch des Vesuvs von 1822 und Orkanen zu leiden; die schon in den Friedensjahren 1815-20 verdoppelte Staatsschuld wuchs infolge der im ganzen 600 Mill. Frs. kostenden österr. Einlagerung und der Betrügereien der Minister. An Stelle der Österreicher, deren letzte 10000 Mann erst Febr. 1827 abzogen, setzte noch Ferdinand eine Schweizertruppe.

Die Regierung von Ferdinands Sohn Franz I. (s. d., 1825-30) zeichnete sich nur durch die um sich greifende Zuchtlosigkeit am Hofe und die wachsende Feilheit der Beamten und des verarmten Adels aus. Ferdinand II. (s. d., 1830-59) wollte völlig Selbstherrscher sein, gestützt auf wohlgeordnete Finanzen und ein gutes Heer, unabhängig von Österreich und Frankreich, die ihm beide ihre Schutzherrschaft aufdrängten. Nachdem jedoch ein gemeinsames Vorgehen gegen Tunis (1833) und Eheschließungen engere Beziehungen Neapels mit Sardinien und mit Toscana angebahnt und die Sicilianer sich unter Ferdinands sanftem Bruder Leopold einige Jahre zufrieden gefühlt hatten, brachte die Ehe Ferdinands mit einer Habsburgerin wieder ein näheres Verhältnis zu Österreich zu Wege. Gleichzeitig wurde Leopold aus Mißtrauen von Palermo zurückgerufen und das ganze Reich straff unter einheitlicher Leitung zusammengefaßt. Als aber die schon 1835 erschienene Cholera aufs neue und viel stärker 1837 wie in Neapel so auch auf S. ausbrach, zerrissen hier alle Bande der Ordnung, und der Glaube, die Neapolitaner wollten die Sicilianer durch Massenvergiftung schwächen, erzeugte ein wildes Morden auf der Insel. Nachdem diesem Ferdinands Polizeiminister del Carretto ein Ende gemacht, wurde der letzte Rest sicil. Selbstverwaltung vernichtet; nur die Freiheit von der Aushebung blieb S. Auf dem Festland setzte Ferdinand 1840 die Einheit von Maß und Gewicht durch und bemühte sich namentlich auch um die Verbesserung der Marine. Nachdem die Unternehmung von Cosenza (März 1844) und die der Brüder Bandiera (Juni 1844) gescheitert waren, erhob sich Aug. 1847 ein Aufstand zu Reggio; auch dieser ward niedergeschlagen. Aber das durch Pius' IX. Liberalismus angefachte Feuer ward durch die geheime Presse ebenso wie durch die beschränkten Accise- und Zollerleichterungcn und die dürftige Amnestierung geschürt; zwischen Insel und Festland ward die Empörung verabredet, S. sollte mit der Forderung seiner Verfassung von 1812 beginnen, Neapel mit dem Verlangen der seinigen von 1820 folgen. Dem Beispiel Palermos, das sich 12. Jan. 1848 erhob und 4. Febr. die königl. Truppen zum Abzug zwang, schlossen sich Girgenti, Catania, Caltanisetta, Trapani und Messina an. Daraufhin veröffentlichte 10. Febr. Ferdinand eine schon 29. Jan. zugesicherte Verfassung, welche der mit Serracapriola und C. Poerio ins Kabinett berufene Boselli nach franz;. Muster zugeschnitten hatte. In Neapel war darüber Jubel, in S., wo man sich um die zugesicherte Sonderstellung geprellt sah, tiefe Verstimmung. Von dem in Palermo als provisorische Regierung waltenden Generalkomitee ward die neue Verfassung 3. Febr. verworfen und aufs neue die landeseigene von 1812 gefordert. S. war nicht weiter zu bringen als zur Annahme einer Personalunion, wogegen sich Ferdinand 22. März verwahrte; so wurde der Riß zwischen Neapel und S. nur um so tiefer. Der erfolgreiche Aufstand in der Lombardei trieb aber auch Neapel in die nationale Bewegung hinein; der König sah sich zur Berufung eines nationalen und freisinnigen Kabinetts unter Vorsitz Carlo Troyas 3. April gezwungen. Die seit der Pariser Februarrevolution sich steigernde Aufregung schwoll infolge von Pius' IX. Allokution vom 29. April und erreichte ihren Höhepunkt in den Verhandlungen der 29. April gewählten Kammer mit dem König über den Wortlaut seiner Eidesleistung. Während derselben kam es zwischen Radikalen und Schweizern 15. Mai zu einem Barrikadenkampf in Neapel; der Sieg war auf Seite der letztern. Der König löste sofort Kammer und Nationalgarde auf und befahl G. Pepe die Zurückführung der nach Oberitalien entsandten Truppen. Die Mehrzahl dieser entsprach dem königl. Befehl, Pepe widersetzte sich. Gleichzeitig ward die Flotte von Triest zurückgerufen. Das gefügige Ministerium, das Ferdinand nun einsetzte, berief eine neue Kammer; die Wähler sandten die alte. Aber der Rückschlag zeigte sich bereits in Gewaltthätigkeiten von Beamten, Offizieren und Polizei. Doch blieb Ferdinand vorläufig noch maßvoll und rüstete nur mit Eifer gegen S., wo das Parlament 13. April den Thron für erledigt erklärt und Ferdinand und sein Haus entsetzt hatte. Ein Aufstand der Radikalen in Calabrien wurde blutig niedergeschlagen und die Sammlung der Truppen unter Filangieri und einer Flotte bei Reggio bewerkstelligt, während das Parlament von Palermo nach längern Verbandlungen Ferdinand, den zweiten Sohn Karl Alberts von Sardinien, unter dem Namen Karl Amadeus 11. Juni zum König wählte. Dies und Radetzkys Siege in Oberitalien bewirkten, daß in der Umgebung des Königs die Reaktionspartei völlig die Oberhand gewann. Während das neapolit. Parlament vertagt wurde (5. Sept.), begann die Beschießung Messinas, das Filangieri, der 6. Sept. über den Faro gegangen war, überwältigte und niederbrannte, um dann gegen Palermo vorzudringen. Als sich die Insel von Sardinien, England und Frankreich im Stich gelassen sah, löste sich das Parlament 17. April 1849 auf, und die Unabhängigkeitsregierung legte ihre Gewalt in die Hand des Municipalrats nieder. Dieser vereinbarte 9. Mai mit Filangieri die Unterwerfung auf Bedingungen, die Ferdinand nicht erfüllte. Selbst Filangieri, welcher trotzdem die Statthalterschaft übernahm, ward 1854 entfernt, als er die Insel durch Milde zu gewinnen suchte. Indessen war die ergänzte neapolit. Kammer auf den 4. Febr. 1849 einberufen, ihren Beschlüssen aber die Bestätigung verweigert worden, worauf sie 13. März 1849 aufgelöst wurde. Ein Teil der Abgeordneten floh; gegen die Gebliebenen und sonstige Mißliebige begann das alte Spiel gerichtlicher Scheinverhandlungen; furchtbar waren besonders zwei Riesenprozesse gegen die angeblichen Anstifter der Unruhen vom 15. Mai 1848 und die Mitglieder des Einheitsbundes. Die Macht der Polizei wurde durch Einsetzung von Überwachungs-, sog. Skrutiniumskommissionen außerordentlich erweitert; das Ausland meinte man durch Hinweis auf die milden Gesetze, Begnadigungen und mensch-^[folgende Seite]