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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Sicilien (Königreich beider)

lichen Vorschriften für die Gefängnisse zu täuschen. Thatsächlich herrschte schamlose Willkür und Grausamkeit unter der fanatischen und habgierigen Richter- und Beamtenschaft. Dieselbe Verderbtheit durchzog das Zoll- und Steuerwesen wie die Verwaltung; das Ausland suchte man über den Stand der Finanzen durch amtliche Lügen irrezuführen. Diesem aber öffnete Gladstone die Augen. Das schon vorher gespannte Verhältnis zu England verschlimmerte sich hierdurch und noch mehr durch die russenfreundliche Haltung Neapels während des Krimkrieges. Diese veranlaßte auch Napoleon, Cavours Klagen gegen Neapel auf dem Pariser Kongreß von 1856 zur Erörterung zu bringen. Napoleon ging auf diese Beschwerden Sardiniens um so bereitwilliger ein, als eine wenn auch nicht starke Partei in Unteritalien Umtriebe für Lucien Murat machte. Da Ferdinand den Vorstellungen Englands und Frankreichs Gehör verweigerte, wurden die Gesandten abberufen; der König schiffte 1857 eine größere Anzahl der polit. Sträflinge nach Amerika ein, die aber nach England entkamen, wo sie mit Begeisterung aufgenommen wurden; im übrigen jedoch schien er, gestützt auf die Ostmächte, der Entrüstung Europas, welche Cavour und die Flüchtlinge unabhängig schürten, ungestraft zu trotzen. Allein während neue Unruhen, zuerst die Erhebung Bentivegnas in S. (1856), dann der Angriff des Soldaten Milano auf Ferdinand, endlich der von Mazzini angestiftete Zug Pisacanes nach Sapri, schreckliche Explosionen in Neapel und ein furchtbares Erdbeben (Dez. 1857) in der Gegend östlich von Palermo das Königreich heimsuchten, griff die Fäulnis im Beamtentum und Heer immer mehr um sich. So war der Staat reif zum Zusammenbruch, als Ferdinand an den Folgen der ihm von Milano beigebrachten Wunde 22. Mai 1859 starb.

Seinem Sohne Franz II. (s. d.) fehlte die Erfahrung wie Thatkraft und die Zähigkeit, um des Vaters Platz auszufüllen. Zudem verlor er seine festeste Stütze, die Schweizerregimenter, welchen ihre Kantone, des Schimpfes endlich satt, ihren Schutz entzogen und die sich nun unter Meuterei auflösten. Da Frankreich und England, deren Gesandte nach Ferdinands Tod zurückgekehrt waren, sich gegenseitig an einer Einmischung in Unteritalien und S. verhinderten, sah sich Cavour durch Franz' II. Zurückweisung in die Notlage versetzt, einen Angriff der durch die Abtretung von Savoyen und Nizza gegen ihn erbitterten Bewegungspartei auf S. Vorschub zu leisten, damit sie sich nicht gegen ihn selbst wende. So konnte Garibaldi (s. d.) seinen berühmten Zug der Tausend unternehmen. Am 11. Mai 1860 in Marsala gelandet, entriß er ganz S. bis zum 28. Juli den Neapolitanern. Franz suchte zu spät Rückhalt an Victor Emanuel, ward aber von Cavour nur hingehalten. Gleichzeitig hatte er die Verfassung von 1848 wieder in Kraft gesetzt; aber das Land glaubte den Bourbonen nicht mehr. Garibaldi, 21. Aug. 1860 glücklich nach Calabrien übergesetzt, fand weder bei den Truppen noch von seiten der Behörden nennenswerten Widerstand; das Land begrüßte ihn als Erlöser. So konnte er schon 7. Sept. in Neapel einziehen, von wo Franz nach Gaeta geflohen war. Während der Diktator Garibaldi, immer mehr in die Hände seiner republikanischen Umgebung geraten, die Einrichtung einer geordneten Verwaltung in S. und Unteritalien unter den von ihm ernannten Prodiktatoren Mordini und Pallavicino durch unmittelbare Verfügungen störte und die Angliederung des unter Victor Emanuels Namen gewonnenen Landes an dessen Reich hinausschieben wollte, bis auch Rom und Venetien genommen sein würden, leistete der Rest von Truppen, der Franz geblieben, am Volturno Garibaldis weiterm Vordringen tapfer Widerstand. So sahen sich Cavour und Victor Emanuel gezwungen, selbst einzugreifen, um Garibaldi vor seinen Freunden wie vor seinen Feinden zu retten. Trotz Österreichs drohender Haltung rückte Victor Emanuel durch den Kirchenstaat, in dem Lamoricière nur kurzen Widerstand leistete, nach der neapolit. Grenze, die er ohne Kriegserklärung 12. Okt. 1860 überschritt, wie er erklärte, um die freie Abstimmung des Südens zu schützen. Diese fand 21. Okt. statt und ergab in Neapel und S. 1302074 und 432053 Stimmen für unmittelbare Eingliederung in Victor Emanuels Reich, gegenüber 10312 und 667 republikanisch-partikularistischen und bourbonischen Stimmen. Willig beugte sich Garibaldi der Erklärung des Landes für den König, an dessen Seite er 26. Okt. in Neapel einzog. Nachdem Capua 2. Nov. von den Piemontesen und Garibaldinern genommen war, besuchte Victor Emanuel Palermo und nahm 1. Dez. 1860 Besitz von dem Lande. Franz, eine Zeit lang noch von der franz. Flotte geschützt, dann auch von dieser verlassen, mußte nach tapferer Gegenwehr Gaeta 13. Febr. 1861 räumen; bald darauf fielen auch die Citadelle von Messina (12. März) und zuletzt die Bergfeste Civitella del Tronto, die sich noch für ihn gehalten. Schon vorher war, ungeachtet der Einsprachen des Bourbonen, die Einverleibung des Landes in das Königreich Italien vom ersten ital. Parlament beschlossen und von Victor Emanuel 18. Febr. 1861 bestätigt worden. Doch hatte die ital. Regierung noch einen schweren Kampf mit dem von Franz II. und von den Ultramontanen Frankreichs und Belgiens unterstützten Brigantentum, und daß die Folgen span. und bourbon. Mißwirtschaft noch keineswegs gehoben sind, zeigt das Fortwuchern der Camorra (s. d.) und Mafia (s. d.).

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