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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Socialdemokratie

kapitalistischer Produktionsweise die gleichen. Mit der Ausdehnung des Weltverkehrs und der Produktion für den Weltmarkt wird die Lage der Arbeiter eines jeden Landes immer abhängiger von der Lage der Arbeiter in den andern Ländern. Die Befreiung der Arbeiterklasse ist also ein Werk, an dem die Arbeiter aller Kulturländer gleichmäßig beteiligt sind. In dieser Erkenntnis fühlt und erklärt die socialdemokratische Partei Deutschlands sich eins mit den klassenbewußten Arbeitern aller übrigen Länder. Die socialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend, bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse. - Ausgehend von diesen Grundsätzen fordert die socialdemokratische Partei Deutschlands zunächst: 1) Allgemeines gleiches direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 J. alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen. Proportionalwahlsystem; und bis zu dessen Einführung gesetzliche Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung. Zweijährige Gesetzgebungsperioden. Vornahme der Wahlen und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage. Entschädigung für die gewählten Vertreter. Aufhebung jeder Beschränkung polit. Rechte außer im Falle der Entmündigung. 2) Direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vorschlags- und Verwerfungsrechts. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volks in Reich, Staat, Provinz und Gemeinde. Wahl der Behörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuerbewilligung. 3) Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege. 4) Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken. 5) Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich- und privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen. 6) Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen. 7) Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den öffentlichen Volksschulen sowie in den höhern Bildungsanstalten für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die kraft ihrer Fähigkeiten zur weitern Ausbildung geeignet erachtet werden. 8) Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistands. Rechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Berufung in Strafsachen. Entschädigung unschuldig Angeklagter, Verhafteter und Verurteilter. Abschaffung der Todesstrafe. 9) Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit der Totenbestattung. 10) Stufenweis steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind. Selbsteinschätzungspflicht. Erbschaftssteuer, stufenweise steigend nach Umfang des Erbguts und nach dem Grade der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und sonstigen wirtschaftspolit. Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern. - Zum Schutze der Arbeiterklasse fordert die socialdemokratische Partei Deutschlands zunächst: 1) Eine wirksame nationale und internationale Arbeiterschutzgesetzgebung auf folgender Grundlage: a. Festsetzung eines höchstens acht Stunden betragenden Normalarbeitstags; b. Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder unter 14 Jahren; c. Verbot der Nachtarbeit, außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach, aus technischen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt Nachtarbeit erheischen; d. eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche für jeden Arbeiter; d. Verbot des Trucksystems. 2) Überwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch ein Reichsarbeitsamt, Bezirksarbeitsämter und Arbeitskammern. Durchgreifende gewerbliche Hygieine. 3) Rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern; Beseitigung der Gesindeordnungen. 4) Sicherstellung des Koalitionsrechts. 5) Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich mit maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.

Die auf dem Frankfurter Parteitage (1894) gewählte Agrarkommission zur Ergänzung des Programms mit Rücksicht auf die ländlichen Verhältnisse legte ihre Arbeit dem 6. bis 12. Okt. 1895 in Breslau stattfindenden Parteitage vor. Der Entwurf forderte eine Reihe von Maßregeln zu Gunsten des ländlichen Mittelstandes; er wurde aber abgelehnt.

Was die Parteiorganisation betrifft, so konnte sich die socialdemokratische Partei Deutschlands, wie sie sich jetzt nannte, mit Rücksicht auf das geltende Vereinsgesetz nicht als geschlossenen Verband von Vereinen konstituieren. Es wird daher jede Person der socialdemokratischen Partei zugerechnet, die sich zu den Grundsätzen des Programms bekennt. Als oberste Instanz gilt der alljährlich zu berufende Parteitag. Zur Teilnahme daran sind berechtigt: die Delegierten der einzelnen Reichstagswahlkreise, die Reichstagsabgeordneten und die Parteileitung. Diese, auf dem Parteitag selber gewählt, besteht aus 12 Mitgliedern, von denen 5 mit der Führung der Geschäfte betraut sind, während die andern 7 nur die Kontrolle ausüben. Die Parteileitung tritt mit den Vertrauensmännern der "Genossen" jedes Wahlkreises in Verbindung, beruft die Parteitage und kontrolliert die principielle Haltung der Parteiorgane. Am 29. Nov. 1895 wurde durch Verfügung des Berliner Polizeipräsidenten wegen Verletzung des Vereinsgesetzes der Parteivorstand aufgelöst, worauf die Leitung auf die socialdemokratische Reichstagsfraktion überging und von einem provisorischen geschäftsführenden Ausschuß in Hamburg übernommen wurde. Durch gerichtliche Entscheidung wurden die Hauptbeteiligten freigesprochen, und auf dem Hamburger Parteitage wurde 1897 be-^[folgende Seite]