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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Socialdemokratie

schlossen, den Sitz der Parteileitung wieder nach Berlin zu verlegen. Der Parteitag für 1896 fand vom 11. bis 16. Okt. in Gotha statt. Verhandelt wurde über den Arbeiterschutz, die Frauenagitation und zahlreiche innere Parteiangelegenheiten. Der wichtigste Beschluß des 4. bis 9. Okt. 1897 in Hamburg abgehaltenen Parteitages war der, sich an den preuß. Landtagswahlen zu beteiligen. Die Einnahmen der Parteikasse betrugen 1896/97: 274 521 M., die Ausgaben 283 093 M.

Neben der politischen kommt noch die gewerkschaftliche Organisation in Betracht. Die in den Gewerkschaften organisierten Arbeiter erstreben in erster Linie Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage in ihrem Gewerbe; es ist daher ein gewisser Gegensatz zwischen der polit. und dieser Vertretung vorhanden, weil man von seiten der S. fürchtet, daß die eigentlichen großen polit. Endziele der Partei durch die gewerkschaftliche Arbeit in den Hintergrund gedrängt würden. Unter dem Socialistengesetz waren Gewerkschaften und Fachvereine als die einzigen öffentlichen Organisationsmöglichkeiten für die S. von größter Wichtigkeit. Näheres über ihre Organisation und ihre Stärke s. Gewerkvereine.

Auf die S. fielen bei der Reichstagswahl:

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Jahr Stimmen Abgeordnete Jahr Stimmen Abgeordnete

1871 124 700 2 1884 550 000 24

1874 352 000 9 1887 763 100 11

1877 493 300 12 1890 1 427 300 35

1878 437600 9 1893 1 786 738 44

1881 312 000 13

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Auf je 1000 abgegebene Stimmen kamen 1893 233 socialistische gegen 30 im J. 1871 und 101 im J. 1887. Durch die Nachwahlen stieg die Zahl der Abgeordneten auf 49. Auch in den Landtagen (mit Ausnahme Preußens) sowie in vielen Gemeindevertretungen, Gewerbegerichten, Bezirksausschüssen u. s. w. sitzen Vertreter der S. Sie ist jetzt im sächs. Landtag mit 8, in dem bayrischen mit 5, im württembergischen mit 2, dem badischen mit 3, dem hessischen mit 6, dem gothaischen mit 7, dem altenburgischen und meiningischen mit je 4, dem weimarischen, reußischen j. L. und schwarzburg. Landtag mit je 1 Vertreter repräsentiert.

Eins der wichtigsten Agitationsmittel der S. ist die Presse. Es erschienen 1897: 69 polit. und 55 Gewerkschaftsblätter. Offizielles Parteiorgan ist der von Liebknecht geleitete "Vorwärts" sowie das Centralwochenblatt "Der Socialdemokrat". Von der Provinzialpresse sind bedeutend: "Hamburger Echo", "Leipziger Volkszeitung", "Münchener Post", "Rheinische Zeitung" u. a. In poln. Sprache erscheint der "Gaceta Robotnicza". Dazu kommen noch die wissenschaftliche Wochenschrift "Neue Zeit" (Stuttgart), die Halbmonatsschrift "Der socialistische Akademiker" (Berl. 1894 fg.), die beiden Witzblätter "Der wahre Jacob" (Stuttgart) und "Süddeutscher Postillon" (München) sowie das Unterhaltungsblatt "Die Neue Welt". Den Verlag und Vertrieb der socialdemokratischen Litteratur besorgen besondere Buchhandlungen, vor allem die des "Vorwärts" in Berlin und der Verlag von J. H. W. Dietz in Stuttgart, ferner Auer & Co. in Hamburg, M. Ernst in München und Wörlein & Co. in Nürnberg.

In neuerer Zeit sind innerhalb der deutschen S. zwei Strömungen hervorgetreten, die nicht mit der Hauptleitung der Partei im Einklang stehen. Der eine dissentierende Flügel waren die sog. "Jungen" (Wille, Wildberger); sie wollen eine rücksichtslose Taktik, die direkt auf die Endziele der Partei lossteuert. Der Streit kam auf dem Erfurter Parteitag (1891) zum Austrag, wo die Führer der Opposition, Werner, Wildberger und Auerbach, zum Austritt aus der Partei gedrängt wurden. Der Führer des rechten Flügels ist der Bayer von Vollmar (s. d.), der das Hauptgewicht der Thätigkeit auf die Erreichung aller der Forderungen legt, die schon auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung erreichbar sind.

Auch durch die Beteiligung an den Internationalen Arbeiterkongressen (s. d.) sucht die S. für ihre Ideen zu wirken. Einen internationalen Charakter trägt auch die Maifeier (s. d.) als Demonstration für den achtstündigen Arbeitstag.

In Österreich war der Boden für die Entwicklung der S. ungünstig: der Mangel des allgemeinen Wahlrechts, der stark im Vordergrund der Interessen stehende Nationalitätenstreit, die schroffen Polizeimaßregeln zur Unterdrückung freiheitlicher Reformen haben das Anwachsen einer starken, einigen, zielbewußten S. erschwert. Trotzdem hat sich in neuerer Zeit, namentlich in den Centren der Industrie, eine Socialistenpartei entwickelt, die in immer stärkerm Maße an Ausdehnung gewinnt; ihr Führer ist Victor Adler, Hauptorgan die täglich erscheinende "Wiener Arbeiterzeitung". Infolge der Wahlreform von 1896 gelang es ihr bei den Wahlen von 1897 14 socialdemokratische Abgeordnete für das Abgeordnetenhaus durchzubringen. In Ungarn existiert eine socialdemokratische Bewegung seit 1868, wo eine Arbeiterpartei mit Lassalleschem Programm gegründet wurde. Seit Anfang der siebziger Jahre vollzog auch diese den Übergang zu mehr marxistischen Principien, ohne dieselben aber auf die Dauer streng innezuhalten. Anfang der achtziger Jahre trug in das geringe Häuflein noch der Anarchismus Verwirrung, und andererseits schloß später ein Teil der Socialdemokraten öfters weitgehende Kompromisse mit den "bürgerlichen" Parteien. Die Anhänger setzen sich ebenso aus Deutschen wie aus Magyaren zusammen. 1894 zeigten sich hier auch auf dem flachen Lande, im Alföld, socialistische Regungen der Bauernschaft.

In Frankreich war schon 1848 eine bedeutende socialistische Arbeiterbewegung vorhanden; vorbereitet durch die Theorien von Saint-Simon, Fourier, Cabet u. a. m. hatten sich eine Menge socialistischer und kommunistischer Sekten gebildet, doch traten in der an die Februarrevolution sich anschließenden Bewegung namentlich die Ideen von Louis Blanc und Proudhon hervor. Ersterer erstrebte eine Art gouvernementalen Socialismus derart, daß der Staat an Arbeiterproduktivgenossenschaften billigen Kredit geben sollte; Proudhon dagegen vertrat die Theorie des Anarchismus (s. d.). Als Ende der sechziger Jahre in Frankreich wieder eine socialistische Bewegung begann, waren die Lehren Proudhons die vorherrschenden, was auch in der Pariser Commune noch hervortrat. Daß jetzt der Marxismus, der dank der energischen Agitation, namentlich von Jules Guesde und Paul Lafargue, bedeutende Fortschritte gemacht hat, auch in Frankreich eine wichtige Rolle spielt, bewies der internationale Arbeiterkongreß in Paris 1889; die drei dort vertretenen Gruppen waren: die Arbeiterpartei (parti ouvrier), das revolutionäre Centralkomitee (comité révolutionnaire central) und die nationale Verbindung der Arbeitersyndikate Frankreichs (féderation