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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Socialismus

Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich sei. Von dem gesamten Arbeitsertrage werde deshalb zunächst so viel abgezogen und unter die Arbeiter verteilt, als zu ihrer Lebensfristung erforderlich sei (Arbeitslohn); der ganze Überschuß der Produktion des Arbeitsertrags falle auf den Unternehmeranteil. Er schlägt vor, um diesem Übel abzuhelfen, daß der Staat Arbeiterproduktivassociationen billigen Kredit gewähren solle. Diese Produktivassociationen sollten durch einen Assekuranz- und Kreditverband vereinigt sein. Zu den Vorschüssen an die Arbeiterassociationen erachtete Lasalle für ganz Deutschland vorläufig 100 Mill. Thlr. für genügend. Auf Grund dieses Lassalleschen Programms wurde am 23. Mai 1863 in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet, für den Lassalle unermüdlich agitierte und große Agitationsreisen unternahm; ein frühzeitiger Tod (Aug. 1864) setzte dieser Thätigkeit jedoch bald ein Ende, ohne daß der Verein es zu einer sehr zahlreichen Mitgliederzahl gebracht hatte. (S. Socialdemokratie.)

Von allen socialistischen Denkern hat aber keiner je solchen maßgebenden Einfluß in allen Kulturländern erlangt als Karl Marx. Marx hatte sich schon 1847 in Brüssel dem internationalen Kommunistenbunde angeschlossen und in dessen Auftrag mit Engels das "Kommunistische Manifest" verfaßt, welches die Grundlage der weitern marxistischen Agitation und der meisten heutigen socialdemokratischen Parteien ist. In dem großen Werke "Das Kapital", dessen erster Band 1867 erschien, dessen zweiter und dritter Band 1881 und 1891 von Engels herausgegeben wurde, hat Marx die Hauptgrundzüge seiner gesamten ökonomischen Weltanschauung niedergelegt; dieses ist die Quelle fast des gesamten modernen wissenschaftlichen S. und ist die "Bibel der Arbeiterklasse" genannt worden. Die wichtigsten Sätze Marx' sind bereits oben (S. 9) mitgeteilt worden. Auf Grund der Marxschen Principien war die Eisenacher Partei in Deutschland neben der Lassalleschen Partei (s. Socialdemokratie) hervorgetreten, und erst 1875 kam es zu einer Einigung in Gotha, wo ein Programm festgesetzt wurde, das beiden Parteien gerecht zu werden versuchte. Doch immer mehr gewann die Marxsche Richtung die Oberhand, und die Lassalleschen Ideen wurden allmählich ganz aufgegeben.

1875 bereits hatte sich Marx in einem Brief energisch gegen die Lassallesche Theorie und dessen praktische Vorschläge der Socialreform gewandt; dieser Marxsche Brief wurde 1891 veröffentlicht. Darin warf Marx vor allem Lassalle vor, daß er im Gegensatz zum kommunistischen Manifest und zum frühern S. die Arbeiterbewegung vom engsten nationalen Standpunkte statt vom internationalen Standpunkte gefaßt habe. Auch das Lassallesche "eherne Lohngesetz" erklärt Marx für falsch; daß der Arbeitslohn nur auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert sei, das sei nicht die Grundlage der Kritik der heutigen Gesellschaftsordnung; und selbst wenn bewiesen sei, daß das nicht richtig sei, oder wenn Einrichtungen getroffen würden, den Lohnsatz zu erhöhen, so könne dadurch noch nicht das Übel mit der Wurzel entfernt sein; der theoretische Ausgangspunkt müsse die Lehre vom Mehrwert sein, d. h. die Lehre, daß der Arbeitslohn nicht das sei, was er zu sein scheine, nämlich der Wert oder Preis der Arbeit, sondern nur eine maskierte Form für den Wert oder Preis der Arbeitskraft; daß das ganze kapitalistische Produktionssystem sich darum drehe, diese Gratisarbeit zu verlängern durch Ausdehnung des Arbeitstags oder durch Entwicklung der Produktivität oder größere Spannung der Arbeitskraft, daß also das System der Lohnarbeit ein System der Sklaverei sei, die im selben Maße härter werde, wie sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit entwickeln, ob nun der Arbeiter bessere oder schlechtere Zahlung empfange. Ferner aber wendet sich Marx gegen die Lassalleschen Produktivassociationen mit Staatskredit; auf Grund seiner materialistischen Geschichtsphilosophie glaubt Marx überhaupt nicht daran, daß durch irgend ein von Menschen ausgeklügeltes "System" die sociale Frage gelöst werden könne, sondern mit Naturnotwendigkeit müßten wir in den socialistischen Staat hineinwachsen. Nur die radikale Umwälzung alles Bestehenden, d.h. die völlige Beseitigung alles Privateigentums an Grund und Boden und an Kapitalien und die Ersetzung desselben durch das Gemeineigentum der produzierenden Gemeinschaft, könnten endgültig zum Ziele führen. Den Marxschen Principien entsprechend ist daher das Erfurter Programm formuliert (s. S. 2 fg.).

Der Agrarsocialismus will nicht wie die übrigen socialistischen Parteien eine Beseitigung des Privateigentums überhaupt, sondern nur des privaten Grundeigentums bez. des privaten Grundrenteneinkommens. Die Bodenverstaatlicher betonen vielmehr ausdrücklich, daß sie für Aufrechterhaltung des Privatkapitals, der freien Konkurrenz und der Gewerbefreiheit eintreten; die Wurzel aller socialen Not erblicken sie im Grundeigentum. Seitdem Thomas Spence in seinem 1775 zu Newcastle gehaltenen Vortrag "The meridian sun of liberty" die sociale Frage durch die Bodenverstaatlichung als lösbar erklärte, hat es in den meisten Ländern, namentlich aber in Amerika, England und Deutschland, nie an wichtigen Vertretern dieser Idee gefehlt. Der eifrigste, erfolgreichste und geistvollste der ganzen Richtung ist zweifellos der Amerikaner Henry George (s. d.), der die rührigste Propaganda entfaltet. Sein Hauptwerk ist: "progress and poverty" (1879). Er erkennt jedem Mensch ein angeborenes Recht auf die Mitbenutzung der Natur zu, aber er beschränkt dieses Recht auf den Grund und Boden, während die Produkte menschlicher Arbeit nach seiner Ansicht ohne Ungerechtigkeit von den Produzenten angeeignet werden könnten. So wie die deutschen Socialisten meist in dem mobilen Kapital und im Kapitalzins die Wurzel alles wirtschaftlichen Unheils erblicken, so ist nach Henry George umgekehrt das Grundeigentum und die Grundrente die Ursache des Pauperismus, der Krisen, des ehernen Lohngesetzes. Der Staat soll nach George die Grundrente ohne Entschädigung der Eigentümer sich aneignen, was am besten durch eine die Grundrente ganz erschöpfende Besteuerung geschehen könne, welche dann die Aufhebung aller übrigen Steuern ermöglichen würde. George hat eine sehr große Anzahl begeisterter Anhänger geworben, die sein System verbreiten. In England ist besonders Alfred Russel Wallace für die Bodenverstaatlichung eingetreten; Wallace unterscheidet sich dadurch von George, daß er das Grundeigentum nicht ohne Entschädigung der bisherigen Besitzer aufheben will. Seine Hauptschrift ist betitelt: "Land nationalization, its necessity and its aims" (1882). In Deutschland ist, nachdem bereits früher Gossen ("Entwicklung der Gesetze des menschlichen Ver-^[folgende Seite]