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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Spitzen

schlossen, Réseau oder Spitzengrund genannt. Durch den Wechsel in Gestalt und Größe dieser Zellen entstehen zahlreiche Grundarten, die mit der angewendeten Herstellungsmethode die Grundlage für die Einteilung der S. in technologischer Hinsicht bieten, während man dieselben im Handelsverkehr nach den mutmaßlichen oder nachweislichen Fabrikationsorten oder Fabrikationsgebieten zu bezeichnen pflegt.

Die ältesten S. sind Nadelarbeit und ohne Zweifel aus den Stickereien hervorgegangen. Sie besitzen wie diese als Unterlage einen dichten Stoff, der durch zweckentsprechendes Ausziehen einzelner Webfäden, sowie durch geeignete Gruppierung und Verbindung der zurückgebliebenen Fäden derart durchbrochen ist, daß die beabsichtigten, meist geometr. Muster entstehen. Infolge der rechtwinkligen Kreuzung von Einschlag- und Kettenfäden in dem als Grundlage dienenden Gewebe sind die Durchbrechungen nur von geringem Wechsel der Form. Die Vereinigung der bündelweise zusammengelegten Fäden geschieht durch dichtes Umwinden mit einem Nähfaden, wodurch dem entstehenden Stäbchen eine beträchtliche Steifheit und Widerstandsfähigkeit erteilt und ein klares Netzwerk mit rechteckigen Zellen geschaffen wird. Das Ausziehen der Fäden geschieht derart, daß innerhalb der Zellen Fadenkreuze, oder an den Kreuzungspunkten der Stäbchen durch Umwinden derselben Rosetten entstehen. Größere Flächenmuster erhält man durch Zurücklassen quadratischer oder sternförmiger Stoffteile oder durch Ausfüllen der Zellen mit dicht an- und übereinander gelegten Stichen. Diese Arbeiten heißen mit Rücksicht auf die Art ihrer Erzeugung Ausziehspitzen (ital. punto tirato). Zu größerer Vollkommenheit und Feinheit gelangt die Mustergebung in der ausgeschnittenen Arbeit (punto tagliato), bei der die durch Ausschneiden von Fäden erzeugten Durchbrechungen der Stofffläche mit Gitterwerk aus eingezogenen und kordonnierten Fäden und mit Languetten wirkungsvoll ausgefüllt sind. Mit Rücksicht auf die sich rechtwinklig kreuzenden Fäden der Gewebeteile kommen nur geometr. Muster zur Ausführung, die aber durch schräg eingezogene Fäden und durch die freie Bildung der Languetten mannigfachen Wechsel in der Zeichnung gestatten. Diese im Aussehen den Charakter der S., in der Herstellungsweise den der Stickerei tragenden Arbeiten vermitteln gleichsam den Übergang zwischen beiden Kunstzweigen. Hier sind auch die in neuester Zeit auf der Plattstichstickmaschine zur Anfertigung gelangenden Ätzspitzen (s. d.) zu nennen.

Bei den eigentlichen genähten S. (Nadelspitzen) fehlt das die einzelnen Fadengebilde stützende Grundgewebe; dieselben halten sich gegenseitig und müssen deshalb ganz bestimmte Formen besitzen. Die ältesten Arbeiten dieser Art sind die Netzspitze (ital. reticella) mit vorwiegend geometr. Mustern und die zu der Art der Guipürespitzen (s. Guipüre) gehörende schwere und prunkvolle Venetianer Spitze (ital. punto di Veneziaia), deren mannigfach gestaltetes Blatt- und Rankenwerk mit seinen durch Unterlegen plastisch hervorgehobenen Umrissen ihnen unter allen Erzeugnissen des weiblichen Kunstfleißes den höchsten ästhetischen und technischen Wert verleiht. Die Figuren des Musters sind hier durch Stäbchen oder Stege verbunden, die aus mehrfachen in Festonstich umnähten Fadenlagen bestehen und öfters mit Schleifen oder Knötchen (Picots) besetzt sind. Aus dieser Nadelarbeit hervorgegangen ist die nicht minder schöne und reiche, dabei leichtere und zierlichere Guipürespitze, Point de France oderPoint de Paris genannt, die aus schmalen, mannigfach gewundenen Bändern bestehende Genueser Litzenspitze, die mit Zellengrund versehene Alençon-, Argentan-, Brüsseler Spitze u. s. w. Zur weitern Ausbildung des Musters oder der Grundzellen dienen zahlreiche, meist höchst kunstvoll geschlungene Sticharten (Spitzenstiche).

Die neuern Nadelarbeiten dieser Art haben alle mehr oder weniger die Ausführung der alten Muster zum Vorbild, die sie jedoch in Bezug auf die Güte der Arbeit nur selten erreichen. Die Herstellung der Nähspitzen erfolgt mit Hilfe eines Musterblattes (Patrone), auf dem die Umrisse der Figuren durch Nadelstiche angedeutet sind. Mittels sehr feiner Fäden wird das Musterblatt auf zwei übereinander liegenden Zeugstücken festgenäht, sodann, der punktierten Zeichnung folgend, ein starker Doppelfaden aufgelegt und mittels eines dünnen Fadens angeheftet. Je nach der zu erzielenden Schattierung der Musterflächen werden sie mehr oder minder dicht mit dem betreffenden Spitzenstich angefüllt, die Umrisse durch entsprechende Stichlagen hervorgehoben, die Grundfäden der die Figuren verbindenden Stege ausgespannt und umnäht, bei Réseauspitzen die freien Räume mit dem nicht sehr dichten, aber gleichmäßigen Grund ausgefüllt. Nach beendeter Arbeit bewirkt man die Trennung der S. vom Musterblatt durch Voneinanderziehen der beiden Zeugstücke und Zerreißen der dieselben verbindenden Heftfäden.

Weit mannigfaltiger als bei den genähten sind die Formen der Grundzellen bei den geklöppelten S. (s. Klöppeln), deren Muster sich als breite Gewebeflächen, in denen meist Einschlag- und Kettenfäden sich rechtwinklig kreuzen, oder die letztern von einer gleichen Anzahl im Zickzack laufender Einschlagfäden in schräger Richtung gekreuzt werden, von dem mehr oder weniger durchsichtigen Grund abheben. Die zur Herstellung des Grundes benutzten Fäden laufen sämtlich die S. entlang und werden an den betreffenden Stellen direkt zur Bildung des Musters verwendet, so daß dieses mit dem Grund ein untrennbares Ganzes bildet. Während die Konstruktion der geklöppelten Guipürespitze im allgemeinen mit derjenigen der genähten übereinstimmt, weicht dieselbe in der Ausbildung der Details wesentlich von jener ab. An die Stelle der umwickelten Fäden treten als Stege Gezwirne oder Geflechte, die häufig durch schleifenförmige Picots verziert sind. Nach der Art der punto tagliato gemusterte Klöppelspitzen, bei denen die einzelnen Fadenstränge durch Gezwirne oder schmale Geflechte ersetzt sind, werden Clunyspitze genannt. Die neuern Guipürearbeiten, namentlich die sächs. und böhm. Wollguipürespitzen, zeigen meist ein vollständig ausgebildetes Grundnetz mit mannigfachen Zellenformen. Die bei den geklöppelten Réseauspitzen am häufigsten vorkommenden Grundbindungen sind der Torchon-, Valenciennes-, Kettelgrund, der Mechelner oder Malinesgrund, ferner der Tüllgrund, wie er sich bei den alten S. von Brügge, Chantilly, Lille, in neuerer Zeit bei den Malinesspitzen des sächs. und böhm. Erzgebirges, bei Blonden u.s.w. findet. Bei den applizierten S. trägt ein geklöppelter oder auf der Bobbinnetmaschine gefertigter Tüllgrund durch Handarbeit hergestellte und durch Aufnähen befestigte Musterfiguren. Gehäkelte S., z. B. die sog. irische Guipürespitze (auch einfach irische Spitze