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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Sprachwissenschaft

werden, oder das Verhältnis von Beziehungs- und Bedeutungslaut giebt die Form des Wortes. So kommen für jedes Wort drei Momente in Betrachtung: Laut, Bedeutung (in diesem weitern Sinne auch Funktion genannt), Form.

Die Form bildet das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zur Klassifikation der Sprachen, und die Morphologie der Sprache stellt danach drei Klassen von Sprachen auf: I. Isolierende oder einsilbige (monosyllabische) Sprachen. Die Beziehung ist gar nicht lautlich ausgedrückt, die Sprache hat also nur Bedeutungslaute oder Wurzeln; dazu gehören z. B. das Chinesische, Tibetische und die hinterind. Sprachen. Die Beziehung ist in der Seele des Redenden freilich vorhanden, muß aber von dem Hörenden, da sie nicht laut wird, für sich ergänzt werden. II. Zusammenfügende (agglutinierende) Sprachen. Die Sprache hat lautlichen Ausdruck für die Beziehung und fügt mit den Wurzeln die Beziehungslaute in irgend einer Weise zusammen, entweder durch Nachsetzung (Suffigierung), oder Vorsetzung (Präfigierung), oder Hineinsetzung in die Wurzel (Infigierung), wobei die Laute der Wurzel überhaupt keine Veränderungen erleiden oder wenigstens nur durch mechan. Lautbewegung, also keine, mit denen an sich die Bezeichnung einer Beziehung verbunden wäre. Zu dieser Klasse gehören die meisten bis jetzt bekannten Sprachen: die malaio-polynesischen, die dravidischen, eine Anzahl im Kaukasus einheimischer Sprachen; der finn.-tatar. oder uralaltaische Sprachstamm, eine große Anzahl afrik. Sprachen, namentlich südafrikanische (Bantusprachen); in Europa das Baskische; die Sprachen der Indianer Amerikas. III. Flektierende Sprachen. In diesen wird die Wurzel selbst zum Zwecke des Beziehungsausdrucks regelmäßig verändert, außerdem aber besondere Beziehungslaute auch mit der Wurzel zusammengefügt. Zu dieser Klasse gehören nur zwei Sprachstämme, der indogermanische und der semitische. - Über Klassifikation der Sprachen vgl. Steinthal, Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues (Berl. 1860; neu bearbeitet von F. Misteli als Bd. 2 des Steinthalschen "Abrisses der S.", ebd. 1893); Schleicher, Die Sprachen Europas in systematischer Übersicht (Bonn 1850); Pott, Wurzelwörterbuch der indogerman. Sprachen (Bd. 2, Abteil. 2, Detmold 1870, Vorrede); F. Müller, Grundriß der S., Bd. 1 (Wien 1876); G. von der Gabelentz, Die S. (Lpz. 1891), S. 327 fg.

Nach einer bis vor kurzem allgemein verbreiteten Anschauung sollte zwischen diesen Klassen auch ein Wertunterschied bestehen; so stehe die erste Klasse am niedrigsten, da sie von den beiden notwendigen Momenten jeder menschlichen Rede nur das eine (die Bedeutung) lautlich ausdrücke. Die zweite Klasse drücke zwar die Beziehung aus, aber so, daß Beziehungs- und Bedeutungslaute lose nebeneinander stehen und die Beziehung sich immer noch als etwas Selbständiges neben der Bedeutung geltend mache. Die dritte Klasse endlich stehe deswegen am höchsten, weil sie das im Denken Ungetrennte auch in einem einheitlichen Lautbilde durch die Veränderung des Wurzellautes selbst wiedergebe. Gegen diese Auffassung hat man mit Recht geltend gemacht, daß eine Wertbestimmung der Sprachen lediglich nach dem Gesichtspunkt vorgenommen werden dürfe, in welchem Maße eine Sprache ihren Zweck, Verständigungsmittel zu sein, erfülle; unleugbar wird dieser Zweck häufig von Sprachen niederer Stufe ebenso vollkommen, unter Umständen vielleicht vollkommener erfüllt als von Sprachen höherer Stufe. Ferner ist es eine sehr verbreitete Anschauung, jene drei Klassen bildeten ein Entwicklungssystem und zwar in dem Sinne, daß jede höhere Klasse die niedere als Vorstufe voraussetze. Es habe also eine Zeit gegeben, wo auch das Indogermanische noch eine isolierende Sprache war, die dann in eine zusammenfügende übergegangen und schließlich zu einer flektierenden geworden sei. Der Begriff des Gehens z. B. wird in allen indogerman. Sprachen durch die Wurzel i ausgedrückt, der Begriff "ich" durch mi. "Ich gehe" würde also auf der isolierenden Stufe ausgedrückt sein i mi (gehen ich), wo beide Wurzeln getrennt sind und beide selbständigen Accent haben. Die zusammenfügende Stufe würde beide Elemente verbinden und unter einen Accent bringen, imi. Im wirklich vorliegenden flektierenden Stande der indogerman. Sprachen aber lautet diese Form eimi (grch. εἶμι), d. h. während die Beziehung auf die erste Person durch das angefügte mi geblieben ist, hätte zugleich die Wurzel eine Veränderung erfahren, welche die Beziehung der dauernden Handlung (in der Grammatik das Präsens genannt) ausdrücke. Jetzt leugnet man jedoch mit Recht, daß wirklich eine innere Veränderung der Wurzel, in unserm Fall der Übergang von i zu ei, zum Zwecke der Beziehungsbezeichnung stattgefunden habe, man hält vielmehr solche Veränderungen der Wurzelsilbe für entstanden durch rein mechan. Lautbewegung (s. Vokalsteigerung). Damit ist überhaupt der principielle Unterschied zwischen agglutinierenden und flektierenden Sprachen geleugnet. Ferner weiß man auch nicht, ob Sprachen, die uns jetzt als isolierende erscheinen, von jeher so gewesen waren.

Eine andere Klassifikation in unorganische und organische Sprachen geht auf die Gebrüder Schlegel zurück. Die unorganischen Sprachen zerfallen in zwei Klassen, Sprachen ohne grammatische Struktur (die einsilbigen Sprachen Ostasiens) und Sprachen mit Affixen (die agglutinierenden). Die organischen Sprachen sind solche, die eine Flexion besitzen, und teilen sich in die synthetischen (alten) und die analytischen (modernen) Sprachen. Danach hat man unter analytischen Sprachen Idiome zu verstehen, die infolge lautlichen Verfalls und Verlustes der Flexionselemente am Ende der Worte die grammatische Form durch neue, der Syntax entlehnte Mittel wiedergeben müssen. So drückt man z. B. im Französischen das lat. caball-i "des Pferdes" durch de cheval "vom Pferde" (lat. de caballo), das lat. caball-o "dem Pferde" durch à cheval "zum Pferde" (lat. ad caballum), das lat. cantabo "ich werde singen" durch chanterai "ich habe zu singen" (lat. cantare habeo) aus.

Wieder eine andere Einteilungsweise ist die sog. psychologische. Diese betrachtet die Sprache als Organ des Geistes und fragt wesentlich danach, ob die Sprache den Unterschied von Stoff und Form erfaßt und zum Ausdruck bringt. Sie stellt daher zwei Klassen auf, erstens Formsprachen, zweitens formlose Sprachen. Jede dieser Klassen zerfällt wieder in zwei Abteilungen, je nachdem die den Satz konstituierenden Elemente (die Worte) auf dem Princip der lockern Anreihung oder der Abwandlung beruhen. Zu den Formsprachen, welche die Form erfassen, dieselbe aber durch bloße Stellung