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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Ungarn (Geschichte)

bezogen. Es wurden die Komitate wieder eröffnet und für einen zu berufenden Landtag Vorbereitungen getroffen. Die 18. Dez. 1860 zusammengetretene Graner Konferenz erklärte aber, daß die Wahlen nur nach dem Gesetze von 1848 stattfinden könnten. Somit war die Gesetzgebung von 1818 gefordert, die durchaus ein verantwortliches ungar. Ministerium bedingte. Die allgemeine österr. Reichsverfassung vom 26. Febr. 1861 stand jedoch in zu großem Widerspruch mit der ungar. Gesetzgebung von 1848. Der 2. April 1861 zusammengetretene ungar. Reichstag, auf dem die Repräsentanten Siebenbürgens fehlten, hielt sich nicht für kompetent, den Reichsrat in Wien zu beschicken. Am 21. Aug. 1861 erfolgte die Auflösung des ungar. Reichstags. Aber auch mit dem kroat. Landtage war die Regierung nicht glücklicher, so daß er 8. Nov. 1861 ebenfalls aufgelöst ward. Der Reichsminister Schmerling regierte nun mit provisorischen Maßnahmen fort. Zwar gelang es der Regierung auf dem siebenbürg. Landtage von 1863, die sächs. und rumän. Deputierten zur Beschickung des Reichsrates zu vermögen; aber die Befestigung der Februarverfassung war damit immer noch nicht errungen. Endlich trat mit dem Besuche des Kaisers Franz Joseph zu Pest-Ofen 6. Juni 1865 eine neue Wendung der Dinge ein. Schmerling erhielt seine Entlassung, und das ihm folgende Ministerium Belcredi suchte einen Ausgleich mit U. herbeizuführen. Allerdings sollte dies im Sinne der altkonservativen Partei geschehen. Aber der Gang der Ereignisse nötigte dann doch zur Annahme der Ideen Franz Deáks, der an der Spitze der großen gemäßigt liberalen Partei in U. stand. Nachdem schon 20. Sept. die Februarverfassung des Reichs sistiert war, eröffnete 14. Dez. Franz Joseph persönlich den ungar. Reichstag in ungar. Sprache. Am 8. Febr. 1866 stellte Deák seinen Antrag auf eine Adresse, die die Vereinbarung der ungar. Verfassung mit der Gesamtmonarchie auseinandersetzte und zugleich die Bereitwilligkeit erklärte, nach Möglichkeit an den Lasten der österr. Staatsschulden teilzunehmen. Eine zweite Adresse in diesem Sinne votierte der Reichstag, als er wegen des bevorstehenden Krieges mit Preußen 26. Juni vertagt wurde.

Der Krieg nahm eine ungeahnt rasche und für Österreich nachteilige Wendung. (S. Deutscher Krieg von 1866.) Eine Aussöhnung mit U. schien nun das Erste und Notwendigste. Der an die Spitze der Regierung berufene Freiherr von Beust setzte die Verhandlungen mit Deák fort, unter dessen Leitung der Ausgleich bewerkstelligt wurde. Am 17. Febr. 1867 wurde Graf Julius Andrássy zum ungar. Ministerpräsidenten ernannt. Die feierliche Krönung Franz Josephs fand 8. Juni 1867 in Ofen statt; durch Schlußprotokoll vom 26. Sept. 1867 kam der vollständige Ausgleich (s. d.) zwischen Österreich und U. zu stande; 21. Dez. 1867 erhielten die neuen Staatsgrundgesetze die kaiserl. Sanktion. Drei beiden Reichshälften gemeinsame Reichsminister wurden für das Auswärtige, die Finanzen und das Kriegswesen ernannt; Parlamentsausschüsse, die sog. Delegationen (s. d.), sollten die gemeinsamen Angelegenheiten beraten. Das Ministerium Andrássy stellte nach seinem Antritt die Komitate und Municipalitäten her. Allen Emigrierten wurde die Rückkehr ins Vaterland gestattet; die Mehrzahl machte davon Gebrauch, nur Kossuth und einige Unversöhnliche blieben fern.

Während die Vertreter Siebenbürgens schon 15. Dez. 1865 auf den Pester Reichstag berufen waren, führten die auf Deáks Antrag wieder aufgenommenen Verhandlungen mit Kroatien erst 28. Sept. 1868 ebenfalls zu einem Ausgleich, wodurch der Anschluß Kroatiens und Slawoniens an U. festgesetzt wurde. (S. Kroatien und Slawonien, Verfassung und Verwaltung.) Im Ministerium kamen mehrere Änderungen vor, und als der Ministerpräsident, Graf Julius Andrássy, im Nov. 1871 an Graf Beusts Stelle Minister des Äußern wurde, gelangte Graf Lónyay zur Präsidentschaft der ungar. Regierung. Die legislative Thätigkeit umfaßte besonders die Justizreform. Die früher von den Komitaten und den Städten gewählten Richter wurden jetzt vom König ernannt und die Gerichtsangelegenheiten der unmittelbaren Aufsicht des Ministers unterstellt. Das Municipalitätengesetz regelte die Komitate und Distrikte und führte ein neues Princip ein, nach dem die Hälfte der Vertreter aus den Meistbesteuerten Virilstimmen haben, die andere Hälfte aber von den Gemeinden gewählt wird. Ein anderes Gesetz regelte die Landgemeinden und Städte ohne Jurisdiktion. Königl. Verordnungen vom 19. Aug. 1869 verordneten auch die Auflösung der Militärdistrikte und ihre Umwandlung zu Civildistrikten. Alle diese Reformen und Neuerungen boten Stoff zur Opposition, zumal die Einheit des Heers für den Gesamtstaat war heftigen Angriffen ausgesetzt. Verschiedene Differenzen führten den Rücktritt Lónyays herbei, all dessen Stelle der bisherige Handelsminister Szlávy 1. Dez. 1872 zum Ministerpräsidenten ernannt wurde.

Aber auch unter diesem Kabinett brachten schlechte Wirtschaft, Mißjahre und der große Krach von 1873 die Landesfinanzen in eine drückende Notlage, die auch das folgende Ministerium Bittó (21. März 1874 bis 3. März 1875) nicht zu beseitigen vermochte. Nach dem Rücktritt Bittós fand eine Verschmelzung der alten Deák-Partei mit dem linken Centrum der Opposition statt, und Baron Bela Wenckheim stellte im März 1875 das neue Ministerium her, in dem Koloman Tisza das Ministerium des Innern und 21. Okt. auch die Ministerpräsidentschaft, und Koloman Széll die Finanzen übernahmen. Die wichtigste Aufgabe des Tisza-Ministeriums war eine neue wirtschaftliche Vereinbarung mit Cisleithanien. Tisza kündete bereits 28. Nov. 1875 das Zoll- und Handelsbündnis mit Österreich. Die schwierigen Unterhandlungen dauerten das ganze Jahr 1877 hindurch. Weil Tisza die Forderungen über das Bankinstitut nicht durchsetzen konnte, dankte sein Ministerium 8. Febr. ab; es reaktivierte sich aber auf ausdrücklichen Wunsch der Krone, weshalb ein Teil seiner Partei unter Führung Apponyis ausschied und gegen ihn in Opposition trat. Endlich einigten sich beide Regierungen, und die neue Vereinbarung wurde vom ungar. Reichstag nach heftigen Debatten angenommen und 27. Juni 1878 sanktioniert. Trotz der übermäßigen Opposition in und außer dem Reichstage gewann doch bei den Wahlen im Aug. 1878 die Regierungspartei eine bedeutende Mehrheit. Da bürdete im Herbst die Occupation Bosniens und der Herzegowina den Finanzen, die sich unter Szélls Leitung günstiger gestaltet hatten, neue Lasten auf. Széll trat daher 3. Okt. 1878 zurück, kurz darauf dankte auch das ganze Ministerium ab; da aber alle Versuche, ein neues Ministerium zu bilden, sich zerschlugen, übernahm Koloman Tisza im Dezember von neuem die Regierung, in die alle frühern Minister wieder eintraten; nur Graf Julius Szapáry erhielt an Stelle Szélls die Finanzen. Seitdem blieb