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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Versicherungswesen

täten, Witwen- und Waisenversicherung, neuerdings die sog. Arbeiterversicherung) und durch zahlreiche hierzu gegründete Privatgesellschaften. Diese erscheinen in der Form der Aktiengesellschaft und unterliegen dann hinsichtlich ihrer Organisation u. s. w. dem Aktiengesellschaftsrecht, oder als Gegenseitigkeitsgesellschaften (s. d.) auf der Grundlage der verhältnismäßig gleichen Beteiligung aller Mitglieder am Gewinn und Verlust des gemeinsamen Unternehmens.

Ein deutsches Reichsversicherungsgesetz zur Regelung der öffentlich-rechtlichen Verhältnisse der Versicherungsgesellschaften ist in Vorbereitung. Für das privatrechtliche Verhältnis zwischen Gesellschaft und Versicherungsnehmer wird, soweit nicht Zwangsversicherung besteht, auch fernerhin der Versicherungsvertrag (s. d.) die vornehmste Quelle des Versicherungsrechts bleiben.

Die zur Erreichung des Versicherungszweckes erforderlichen Mittel, umfassend den Aufwand für fällige Entschädigungen und Versicherungssummen und für die Verwaltung des Unternehmens, werden durch Beiträge der Versicherten beschafft. In der Art der Deckung dieses Bedarfs unterscheidet sich wesentlich die Erwerbsunternehmung von der Gegenseitigkeitsanstalt. Jene erhebt von ihren Versicherten eine feste Versicherungsgebühr, Prämie (s. d.) oder Versicherungsprämie genannt; Überschüsse der Prämien über die erforderlichen Mittel bilden den Gewinn des Unternehmens; reicht die Summe der eingenommenen Prämien zur Deckung der Verbindlichkeiten nicht hin, so hat für das Fehlende das Unternehmen, d. h. in der Regel die Aktiengesellschaft, aufzukommen. Anders bei Gegenseitigkeitsgesellschaften (s. d.): die auch hier, aber mißbräuchlich, als Prämien bezeichneten Beiträge der Mitglieder sind wesentlich Vorschüsse auf die seiner Zeit zur Deckung der Versicherungsansprüche und Kosten erforderlichen Beträge, die ihrer Höhe nach endgültig erst nach Feststellung der gesamten Versicherungsausgaben bestimmbar sind. Hier wird das zu viel Erhobene den Mitgliedern nach Verhältnis der geleisteten Vorschüsse zurückgewährt; fehlende Beträge sind nach demselben Verhältnis nachzuzahlen (Rückgewähr der Überschüsse, Dividenden, Nachschußverpflichtung).

Über die zweckmäßigste Organisation des V. gehen die Meinungen auseinander; während die eine Richtung die Versicherung für die freie Thätigkeit in Anspruch nimmt, in dem freien Wettbewerbe der Unternehmungen den zuverlässigsten Regulator gegen Ausschreitungen in dieser wie in allen Formen wirtschaftlicher Thätigkeit erblickt und nur die Verwirklichung der im Art. 4 der Verfassung dem V. in Aussicht gestellten einheitlichen, rechtlichen Regelung anstrebt, empfiehlt die andere Richtung die Verstaatlichung oder «gemeinwirtschaftliche Organisation» auch des V., oder wenigstens die Aufrechterhaltung und zeitgemäße Fortbildung der von alters her in fast allen deutschen Ländern, wie auch in der Schweiz, Deutsch-Österreich, Dänemark und Skandinavien bestehenden öffentlichen, staatlichen oder provinziellen und kommunalen Versicherungsanstalten.

Die Geschichte des V. reicht in der Seeversicherung bis in das Mittelalter zurück; während aber die Ausbreitung und Ausgestaltung dieses Zweiges Hand in Hand ging mit der durch die Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Ostindien vornehmlich herbeigeführten Umwälzung des Weltverkehrs, gehört die Entwicklung der übrigen Versicherungszweige einer verhältnismäßig jungen Vergangenheit, zum Teil erst der neuesten Zeit an. Im 17. und 18. Jahrh. findet man die Anfänge der Feuer-, Renten- und Lebensversicherung in England, Frankreich und Deutschland. An die Seeversicherung anschließend, entwickelten sich die verschiedenen Zweige der Binnentransportversicherung. Es folgten Hagel-, Vieh-, Glas-, Hypotheken-, Unfall-, Haftpflicht-, Kranken-, Invaliditäts- und Altersversicherung u. a. m. Über die einzelnen Versicherungszweige s. die einschlagenden Artikel.

Auf die Entwicklung des deutschen privaten V. ist von weittragendem Einfluß gewesen die verdienstvolle Arbeit des gothaischen Kaufmanns Ernst Wilhelm Arnoldi (s. d.), des Begründers der Feuerversicherungsbank (1821) und der Lebensversicherungsbank für Deutschland (1829) in Gotha, indem sie der freien Selbsthilfe auf der Grundlage reiner Gegenseitigkeit in den beiden Hauptzweigen des deutschen Versicherungswesens die Anerkennung sicherte; Arnoldis Schöpfungen stehen noch heute an der Spitze der deutschen privaten Gegenseitigkeitsanstalten.

Ein Versicherungsbeirat zur gutachtlichen Mitwirkung in versicherungstechnischen Fragen ist von der preuß. Staatsregierung kürzlich errichtet worden; er besteht aus von den drei Ressortministern auf drei Jahre hierzu berufenen Direktoren öffentlicher und privater, gegenseitiger und Aktiengesellschaften der verschiedenen Zweige des Versicherungswesens und tritt von Zeit zu Zeit in Berlin zusammen.

Die Litteratur des V. entspricht nicht entfernt der Bedeutung dieses Wirtschaftsgebietes; sie ist zudem, zerstreut in Zeitschriften und Gelegenheitsschriften, sehr schwer zugänglich. Zu nennen sind: Masius, Systematische Darstellung des gesamten V. (Lpz. 1857); Em. Herrmann, Die Theorie der Versicherung vom wirtschaftlichen Standpunkte (2. Aufl., Graz 1869); W. Gallus, Die Grundlagen des gesamten V. (Lpz. 1874); Bezold, Das V. (Berl. 1874); A. Emminghaus, Die reichsgesetzliche Regelung des V. (in «Hirths Annalen des Deutschen Reichs», 1880); ders., Staatsversicherung (im «Bremer Handelsblatt», 1881); W. Lewis, Lehrbuch des Versicherungsrechts (Stuttg. 1889), mit Litteraturnachweis; A. Wagner, Das V. (in «G. Schönbergs Handbuch der polit. Ökonomie», Bd. 2, 3. Aufl., Tüb. 1891); Ehrenberg, Versicherungsrecht (Bd. 1, Lpz. 1893); Herm. Brämer und Karl Brämer, Das V. (17. Bd. des Frankensteinschen «Hand-und Lehrbuchs der Staatswissenschaften», mit Litteraturnachweis, ebd. 1894); Emminghaus, Das V. (im «Handwörterbuch der Staatswissenschaften», Bd. 6, Jena 1894); der Bericht des eidgenössischen Versicherungsamtes über die privaten Versicherungsunternehmungen in der Schweiz (Bern 1886 fg.); Assekuranz-Jahrbuch (hg. von Ehrenzweig, Wien 1880 fg.); Masius, Rundschau des V. (seit 1889 hg. von Oesterley, Leipzig). Statist. Nachweisungen erscheinen in vielen Zeitschriften zerstreut und sind, nach verschiedenen Gesichtspunkten zusammengestellt und nicht immer ganz objektiv, nur mit Vorsicht zu benutzen; für andere Gebiete als Deutschland, die Schweiz, vielleicht noch Österreich-Ungarn, fehlt es an einer zuverlässigen Statistik gänzlich. Über die Gesetzgebung vgl. noch: J. J. Kummer, Die Gesetzgebung der europ. Staaten betreffend die Staatsaufsicht über die privaten Versicherungsanstalten (Bern 1883); J. Hopf, Aufgaben der Gesetzgebung im Gebiete der Feuerversicherung (Berl. 1880), insbesondere die Abschnitte 2 und 7: «Das Bedürfnis der Rechtseinheit» und «Die Centralstelle».