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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Voltaire

gelangen. Seine Ideen über den Unsterblichkeitsglauben und über Leibniz’ beste Welt suchte er in den beiden satir. Romanen «Micromégas» (1752) und «Candide ou l’optimisme» (1759) zu verbreiten: Bühnenwerke aus demselben Jahrzehnt sind «Rome sauvée» (1752) und «L’Orphelin de la Chine» (1755). Auch das bemerkenswerte «Poème sur le désastre de Lisbonne» (1755) stammt ans dieser Zeit. In Ferney gelangte V. erst auf die Höhe seines Ruhms und seines Einflusses: er wurde der anerkannte Führer in dem Kampfe für die Aufklärung. Nicht allein durch seine, bald unter eigenem, bald unter erfundenen Namen erscheinenden Schriften wirkte er für seine Ideen, auch durch seine Korrespondenz mit einflußreichen Personen in Paris und außerhalb Frankreichs, mit Friedrich d. Gr. (seit 1757), mit Katharina II. u. s. w., wurde er eine europ. Macht, deren Ansehen durch die zahlreichen Besuche gestärkt wurde, die er auf seinem Herrensitz Ferney empfing. Seine im Dienste der Aufklärung für die «Encyklopädie» Diderots geschriebenen Artikel faßte er jetzt zusammen im «Dictionnaire philosophique» (1764), dessen Schärfe er später in den «Questions sur l’Encyclopédie» (1770‒72) etwas zu mildern suchte. Unter seinen übrigen, gegen das positive Christentum speciell in der Gestalt des Katholicismus gerichteten Schriften sind zu nennen: «Sermon des Cinquante» (1761), «Le philosophe ignorant» (1766), «Examen important de Milord Bolingbroke» (1767), «Profession de foi des Théistes» (1768), «Dieu et les hommes» (1769), «La Bible enfin expliquée» (1773) u. a. m. Auch fuhr er fort, die Form der Novelle und des Romans für seine Polemik gegen Kirchenglauben und Unduldsamkeit auszunutzen, so in «Le blanc et le noir» (1764), «Jeannot et Colin» (1764), «L’Homme aux quarante écus» (1767), «L’Ingénu» (1767), «Princesse de Babylone» (1768), «Taureau blanc» (1774), «Histoire de Jenni» (1775), «Les oreilles du comte de Chesterfield» (1775). Seine letzten größern Geschichtswerke waren «Histoire de la Russie sous Pierre le Grand» (1759 u. 1763) und «Histoire du Parlement de Paris» (2 Bde., 1769). Auch entstanden noch zahlreiche Gedichte, Epigramme, Satiren, Episteln, und besonders bewahrte V. der Bühne sein lebendiges Interesse. In Ferney ließ er auf eigenem Theater seine Stücke, in denen er selbst mitspielte, aufführen; er besorgte eine Ausgabe Corneilles (1763) mit grammatischem Kommentar zum besten einer Großnichte des Dichters, er schrieb noch den «Tancrède» (1760), sein letztes erfolgreiches Stück, «Olympie», «Socrate», «Saül», Stücke von religiöser Tendenz, «Les Scythes», «Les lois de Minos», «Don Pèdre» im Sinne der Aufklärung und eine letzte Tragödie «Irène» (1778). Außerdem dichtete V. noch verschiedene Lustspiele, wie «Le droit du seigneur», «Charlot», «Le dépositaire» u. a. Würdig aber krönte er sein Leben durch sein Auftreten für die Märtyrer der Glaubens- und Denkfreiheit und die Opfer des Absolutismus: Calas (s. d.), Sirven und Lally-Tolendal (s. d.), und durch seine Reklamationen zu Gunsten der Leibeigenen des Stifts St. Claude. Im Febr. 1778 reiste er nach Paris, um daselbst die «Irène» aufführen zu sehen, und wurde mit großem Enthusiasmus aufgenommen. V. starb drei Monate nachher in der Nacht vom 30. zum 31. Mai 1778 zu Paris. Man setzte seine Leiche 2. Juni in der Stiftskirche Notre-Dame von Scellières (im Sprengel von Troyes) bei. Während der Revolution brachte man seine Reste sowie die Rousseaus mit großem Gepränge ins Pantheon. Im Mai 1814 wurde seine Leiche von dem königl. Münzdirektor Puymorin heimlich entfernt und in eine Kalkgrube vor der Barrière de la Gare geworfen. Napoleon Ⅲ. ließ die Särge im Pantheon 1864 öffnen, welche leer befunden wurden. V.s Herz wurde einbalsamiert in Ferney beigesetzt, später nach dem Schlosse Villette bei Pont Ste. Maxence gebracht und 1864 in der Staatsbibliothek zu Paris aufbewahrt. Eine sitzende Marmorstatue V.s von Houdon (1781) befindet sich im Foyer des Théâtre français, eine Bronzestatue von Coullé (1885) vor dem Institut de France zu Paris.

V.s Einfluß auf sein Zeitalter ist von unermeßlichen Folgen gewesen. Obwohl mehr Talent als Charakter und von kleinen Motiven nicht selten beherrscht, dabei eitel und frivol bis zum Übermaß, hat er wohl am meisten dazu beigetragen, die überlieferte Autorität, hauptsächlich auf kirchlichem Gebiet, gründlich zu erschüttern. Mögen auch jetzt seine philos. Schriften oft wie platte Abdrücke des engl. Deïsmus, seine ästhetischen Urteile trivial, seine histor. Arbeiten oberflächlich erscheinen, so hat er doch die neue Zeit des 18. Jahrh. recht eigentlich heraufführen helfen. Mit klarem, gesundem Menschenverstand, großem Formentalent und vielseitiger litterar. Gewandtheit begabt, hat er fast kein Gebiet der Litteratur unberührt gelassen. Seine histor. Bücher haben nicht nur den geschichtlichen Stoff in eleganter Form dem großen Publikum anziehend und genießbar gemacht, sondern sie bezeichnen auch, wie der «Essai», den Beginn der neuern Geschichtschreibung. Hume, Gibbon, Robertson sind V.s Schüler gewesen. Als Dichter hat er sich in der leichten Poesie mit der größten Meisterschaft bewegt. Ist die «Henriade» auch ein kaltes rhetorisches Tendenzgedicht, so hat es auf seine Zeit mächtig gewirkt, sind seine dramat. Werte, selbst die berühmtesten, nur weit hinter den Werken von Corneille und Racine zu verzeichnen, so ist er dagegen im leichten Gedicht, in der Satire, in der poet. Epistel, im Tendenzroman (z. B. «Candide», «Zadig») unter seinen Zeitgenossen unerreicht geblieben. Die Opposition gegen die philos. und kirchlichen Autoritäten zieht sich als leitender Gedanke durch alle Schriften hindurch, und so wenig er sich sonst konsequent blieb, so mannigfaltige Wandlungen Leichtsinn und Eitelkeit ihn durchleben ließen, hat er doch diesen Kampf mit Zähigkeit und großem Erfolge durchgeführt. V. repräsentiert den Geist und die sittliche Anschauung der vornehmen Gesellschaft vor und in der Erschütterung von 1789. Direkt an ihn knüpfen sich die Girondisten an, während die Montagnards Rousseaus Schüler sind.

Von den zahlreichen Ausgaben von V.s «Œuvres» sind zu nennen die von Decroix Beaumarchais und Condorcet (70 Bde., Kehl 1785‒89), die erste vollständige von Beuchot (70 Bde., Par. 1829‒34) und die von Moland (52 Bde., ebd. 1877‒85). Hierzu kommen noch verschiedene Briefsammlungen, wie Foisset, Voltaire et le président de Brosses (2. Aufl., Par. 1858), Lettres inédites (gesammelt von Cayrol, 2 Bde., ebd. 1856; 2. Aufl. 1857); Bavour und A. F(rançois), V. à Ferney etc. (ebd. 1860); Lettres inédites sur la tolérance (hg. von Coquerel, ebd. 1863), «Lettres inédites à Louis Racine» (hg. von Tamizey de Larroque, ebd. 1894) u. s. w. Unter den zahlreichen biogr. Schriften über V. sind, außer den