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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Wilhelm Ⅱ. (Deutscher Kaiser und König von Preußen)

dem 1. Gardefeldartillerieregiment überwiesen und 16. Sept. 1885 zum Obersten und Commandeur des Gardehusarenregiments ernannt. Am 27. Jan. 1888 erfolgte seine Ernennung zum Generalmajor und Commandeur der 2. Gardeinfanteriebrigade und zum Chef des 2. Gardelandwehrregiments. Seit dem Okt. 1882 wurde der Prinz durch den Oberpräsidenten von Achenbach auch in die Civilverwaltung eingeführt und seit dem Winter 1886/87 von Bismarck mit den Geschäften des Auswärtigen Amtes bekannt gemacht. Am 15. Juni 1888 berief ihn der Tod des Vaters auf den Kaiserthron.

Vielfach, namentlich im Auslande, stand der junge Kaiser in dem Rufe, daß ihn Sehnsucht nach kriegerischen Lorbeeren beseele, wogegen er sich noch als Prinz mit Entschiedenheit verwahrte. Als Kaiser veröffentlichte er 15. Juni 1888 seine ersten Erlasse an das Heer und an die Marine und zeigte damit, wie es ihn besonders dränge, die enge Zusammengehörigkeit der Armee mit ihrem Kriegsherrn zu betonen; aber die drei Tage darauf folgende Proklamation «An mein Volk» erwies sogleich in warmen Worten, daß auch er, gleich seinem Vater, ein Fürst des Friedens sein wolle, «Frömmigkeit und Gottesfurcht pflegen, die Wohlfahrt des Landes fördern, den Armen und Bedrängten ein Helfer, dem Rechte ein treuer Wächter sein». Eine Ausführung dieser Gedanken waren die Reden, die er bei Eröffnung des Reichstages 25. Juni 1888, umgeben von 22 deutschen Fürsten, und bei Eröffnung des preuß. Landtages 27. Juni hielt. Die Befürchtung, die man auf liberaler Seite hegte, daß der Kaiser den Bestrebungen der streng konservativen und hochkirchlichen Partei unter der Führung Stöckers sein Ohr leihen würde, wozu besonders eine bei dem Grafen Waldersee veranstaltete Versammlung für die Zwecke der Berliner Stadtmission im Nov. 1887 einen Anknüpfungspunkt zu bieten schien, beseitigte der Kaiser durch die Berufung des nationalliberalen Parteiführers von Bennigsen zum Oberpräsidenten der Provinz Hannover im August und des liberalen Theologen Professor Harnack an die Berliner Universität im Sept. 1888. Eine scharfe Kundgebung des «Reichsanzeigers» gegen die «Kreuzzeitung» 2. Okt. 1889 bestätigte, daß er, in Fortsetzung der bisherigen Kartellpolitik, vor allem eine Verständigung und gegenseitige Schonung aller staatserhaltenden Parteien anstrebte. Alle diese Kundgebungen gingen noch aus völliger Übereinstimmung des Kaisers mit dem Reichskanzler Fürsten Bismarck hervor, als dessen begeisterter Verehrer er sich auch jetzt noch wiederholt zeigte.

Auch in der auswärtigen Politik hielt er zunächst die bisherige Bahn ein; aber eigenartig und eindrucksvoll waren die Mittel, mit denen er seine Absicht kundthat, den Dreibund mit Österreich und Italien aufrecht zu erhalten, daneben auch die Freundschaft mit Rußland möglichst zu pflegen. An der Spitze eines Geschwaders suchte er den Zaren in Kronstadt und Petersburg auf (19. bis 24. Juli); auf der Rückreise besuchte er auch die Höfe von Stockholm (26. und 27. Juli) und Kopenhagen (30. und 31. Juli). Weitere Besuche an verschiedenen Höfen, wie in Rom, wo er auch dem Papste einen Besuch abstattete, folgten noch im Herbst desselben Jahres. Der Erholung und dem Naturgenuß gewidmet waren die Reisen, die er seit dem Sommer 1889 in jedem Jahre nach Norwegen unternahm. Die Vermählung seiner Schwester, der Prinzessin Sophie, mit dem Kronprinzen von Griechenland in Athen 27. Okt. 1889 war die Veranlassung einer Reise des Kaisers nach Griechenland, bei welcher Gelegenheit er auch den Sultan in Konstantinopel (2. bis 6. Nov.) besuchte.

Im Heerwesen wurde das Offizierkorps sehr bald durch zahlreiche Verabschiedungen älterer Generale und Stabsoffiziere verjüngt und neue Exerzierreglements für verschiedene Waffengattungen eingeführt. Des Kaisers Teilnahme an den Herbstmanövern des Heers und der Marine zeigte seinen Entschluß, die Feldherrnkunst durch eigene Übung zu erlernen. Eine Kabinettsorder vom 29. März 1890 über die Besetzung der Offizierstellen wirkte dem Luxus in der Lebenshaltung entgegen und eröffnete den Zutritt zum Offizierkorps weitern bürgerlichen Kreisen. Eifrige Förderung fand auch sofort das Marinewesen bei ihm. Die obersten Behörden desselben wurden 1888 neu organisiert und eine Vermehrung der Flotte zu dem Zwecke, sie auch zur Offensive zu befähigen, 1891 eingeleitet und in den folgenden Jahren gefördert.

Im Mittelpunkte seiner Regierungssorgen stand die sociale Frage. Eindrücke der Erziehung hatten ihn schon auf die Lage der arbeitenden Klassen aufmerksam gemacht. Ein gewaltiger Arbeitsausstand der Bergarbeiter in Rheinland und Westfalen im Frühjahr 1889 (s. Deutschland und Deutsches Reich, Geschichte) wurde der Ausgangspunkt für eine große socialpolit. Aktion des Kaisers. Am 4. Febr. 1890 ergingen zwei Erlasse an den Reichskanzler und die beteiligten Minister, welche der Socialreform völlig neue Bahnen zu eröffnen schienen. Der Kaiser beteiligte sich auch persönlich an den Beratungen des Staatsrats, 11. bis 28. Febr. 1890, der die neuen Gesetzentwürfe vorberaten sollte. Während dann vom 15. bis 29. März 1890 die vom Kaiser einberufene internationale Arbeiterschutzkonferenz (s. d.) tagte, vollzog sich 20. März der Rücktritt des Reichskanzlers Fürsten Bismarck, der die socialen Reformpläne des Kaisers nicht billigte, und die Ernennung des Generals von Caprivi zu seinem Nachfolger. Der Verzicht auf die Erneuerung des 1. Okt. 1890 ablaufenden Socialistengesetzes ging bei dem Kaiser Hand in Hand mit dem Entschluß, etwaige revolutionäre Erhebungen der Socialdemokratie mit eiserner Faust niederzuwerfen.

Sein intensiver Drang, den Forderungen des modernen Lebens gerecht zu werden, führte den Kaiser auch zur Reform des höhern Unterrichtswesens. Die seit Jahren ertönenden Klagen über die Überbürdung der Schüler in den höhern Lehranstalten und über die geringe Berücksichtigung des modernen Unterrichtsstoffes, auch die Eindrücke der eigenen Schulzeit in Cassel weckten bei ihm die Überzeugung, daß eine Reform nötig sei, daß die körperliche Entwicklung mehr zu fördern, daß der Unterricht in den alten Sprachen zu Gunsten namentlich der neuern vaterländischen Geschichte und des deutschen Unterrichts zu beschränken sei, und daß schon die Schule den Kampf gegen die Lehren der Socialdemokratie führen müsse. Zunächst verfügte er 13. Febr. 1890 zeitgemäße Änderungen in dem Lehrplan der Kadettenanstalten, dann ließ er eine Konferenz zur Beratung einer allgemeinern Reform des höhern Schulwesens berufen (4. bis 17. Dez. 1890), die er mit eigenen Ansprachen eröffnete und schloß, und auf deren Beratungen er persönlich lebhaft einwirkte.

Auf evang.-kirchlichem Gebiete entwickelte der Kaiser, Hand in Hand mit der Kaiserin, ein lebhaftes Interesse für Minderung des geistlichen Notstandes