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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Litteratur
Gesellschaft". Eine Zeit lang schien dann manchem aufstrebenden Talent alles Heil in einer möglichst objektiven Wiedergabe der Natur zu liegen. Mit den Kunstbestrebungen verbanden sich entschieden demokratische Neigungen, auch wohl das Bestreben, Illusionen zu zerstören und in Poesie und Prosa in erster Linie auf die Häßlichkeiten, Mängel und Schäden des Lebens hinzuweisen. Seit dem Beginn der neunziger Jahre macht sich der Gegenschlag geltend. Das subjektive Element in der Kunst wird wieder stärker betont und hauptsächlich unter Einstuft der Philosophie Nietzsches, der als Stilist sehr stark gewirkt hat, wird dem nivellierenden Naturalismus gegenüber Recht und Wert des dichtenden Individuums wieder mehr hervorgehoben.
Es ist vielfach verkannt worden, daß die neue Bewegung sich innerhalb der Lyrik am fühlbarsten machte und hier, wo frisches Leben besonders vermißt wurde, auch ihre meiste Berechtigung hatte. Die "Modernen Dichtercharaktere" waren die erste Kundgebung des sog. Jüngsten Deutschlands. Von ältern Dichtern war Ernst von Wildenbruch vertreten, der auf dem Gebiete der patriotischen Lyrik und Balladenpoesie durch eine wuchtige Rhetorik auf jugendliche Gemüter gewirkt hat. Doch hat sich die polit. Begeisterung der Jüngern mehr radikalen Anschauungen zugewendet, so in den Erstlingen des als Lyriker dilettantischen Mackay und des hier und dort durch kräftige Klänge wirksamen Henckell. Auf die philos. Lyrik hat anfangs noch Schopenhauer, später Nietzsche eingewirkt. Indessen vermochte weder der kokette Weltschmerz Arendts, noch der Pessimismus des unglücklich ringenden H. Conradi in weitern Kreisen Interesse zu erregen. Nachhaltiger wirkte eigentlich nur der siegesfrohe Kampfton des pathetischen Arno Holz, der in seinem "Buch der Zeit" (1885) namentlich auch den socialen Fragen der Gegenwart ein lebhaftes Interesse widmete. Holz entsprach am meisten der Forderung einer realistischen Lyrik, wie sie kurz zuvor aus den Sammlungen älterer Lyriker, C. Ford. Meyers ("Gedichte", 1882), Fr. Th. Wischers ("Lyrische Gänge", 1882), Hans Hopfens ("Gedichte", 1883) und Detlev von Liliencrons ("Adjutantenritte", 1883), entgegentrat. Von diesen ist C. F. Meyer (geb. 1825) unstreitig der abgeklärteste, gedankentiefste und formvollendetste, während die derbere, aber frische und kräftige Natur Liliencrons (geb. 1844) sich vielfach in burschikosem Ton gefällt, der für die zahlreichen bewundernden Nachahmer gefährlich geworden ist. Er herrscht z. B. in den Gedichten des nicht unbegabten O. E. Hartleben in Verbindung mit einer Vorliebe für sinnliche Situationen. In metrischer Beziehung wurde insofern eine Neuerung angestrebt, als man mehr und mehr zu den sog. freien Rhythmen griff. Ein Ringen mit der Sprache zeigt sich darin, daß man beginnt, die Sätze in abgerissene Worte und Exklamationen aufzulösen. Seit Beginn der neunziger Jahre übt die Décadencelyrik (s. Décadence) der Franzosen einen gewissen Einfluß; die Situationslyrik beginnt einer Stimmungslyrik zu weichen. Mit klingenden Farben und bunten Tönen operiert besonders Dauthendey, aber auch Vierbaum und österr. Lyriker (Dörmann, Schaukal u. a.) bewegen sich in derselben Richtung. Eine gewollte Naivetät charakterisiert Dehmel, während Falke gelegentlich mehr zum Herzen sprechende Töne findet. Auf ältere Vorbilder, namentlich auf Storm, griff K. Busse zurück, dessen heiteres Talent einige graziöse Bildchen geschaffen hat.
Einen bedeutenden Anteil an der neuesten Lyrik nehmen auch die Frauen. Die meisten freilich suchen mangelndes Talent durch ein emancipiertes Wesen zu verbergen. Um so enthusiastischer ist die in ihrem ostpreuß. Dorf ganz abseits von der modernen Bewegung gebliebene anspruchslose und echt frauenhafte Johanna Ambrosius (s. o.) begrüßt worden, neben der man neuerdings noch andere "Volksdichterinnen" entdeckt hat.
Das Epos hat als unmoderne Gattung fast gar keine Pflege gefunden, abgesehen etwa von Heinr. Harts "Lied der Menschheit" (begonnen 1887).
Auf dem Gebiet des Romans hat der Einfluß der franz. Naturalisten, namentlich Zolas, gewirkt. Dem Pariser Socialroman Zolas bildete Kretzer seine mit starken Mitteln arbeitenden, aber doch auf Beobachtung basierten Berliner Socialromane nach, von denen "Meister Timpe" (1888) den Höhepunkt seines Könnens bezeichnen mag. Großes Geschick zeigen P. Lindaus Romane "Der Zug nach dem Westen" (1886), "Arme Mädchen" (1887), "Spitzen" (1888), ohne eigentliche Kunstwerke zu sein. Mit ernstem Streben haben jüngere Schriftsteller: Holländer, Land u. a., dem realistischen Berliner Roman ihre Thätigkeit zugewandt, ohne viel über die Beobachtung der studentischen Boheme hinauszukommen. Künstlerisch viel erfreulicher sind die in der Reichshauptstadt spielenden Romane des greisen Fontane ("L'Adultera", 1882; "Cécile", 1886; "Irrungen und Wirrungen", 1889; "Stine" 1890; "Frau Jenny Treibel", 1892), die ein feines Verständnis für urwüchsige Berliner Eigenart zeigen. Auf dem Gebiet der Berliner Novelle hat der gewandte, fruchtbare, aber auf pikante Situationen mehr als billig bedachte Hein; Tovote Erfolge erzielt. Die Pflege einer auf Münchner Boden spielenden Roman- und Novellenlitteratur hat sich M. G. Conrad angelegen sein lassen. In seine ostpreuß. Heimat führte mit viel größerm Glück Sudermann in feinen Romanen, der mit der "Frau Sorge" (1880) einen entscheidenden und verdienten Erfolg gehabt hat: die glückliche Symbolik, die Einheitlichkeit der Stimmung, die Wucht der Katastrophe haben dazu beigetragen. Dagegen verdanken der durch kräftige Charaktere ausgezeichnete, doch auf unwahrscheinlichen Voraussetzungen basierende histor. Roman "Der Katzensteg" (1890) und der im Lokalkolorit sehr glückliche, aber in der Menschenschilderung nicht eben tiefgehende Roman "Es war" ihre Wirkung doch wohl mehr dem einmal geweckten Interesse für den Verfasser. Als Novellist hat Sudermann eine bedeutende tragische Kraft entfaltet ("Geschwister", 1888), im humoristischen Genre aber sich mit geringerm Geschick bewegt ("Im Zwielicht", 1887; "Jolanthes Hochzeit", 1892). Auf die Spitze getrieben wurden die Tendenzen der naturalistischen Schule durch Holz und Schlaf in dem Roman "Papa Hamlet", in dem sich die Handlung in Milieuschilderung auflöst, der aber ebenso wie die novellistischen und dramat. Skizzen der beiden auf G. Hauptmann eingewirkt hat.
Die Überwindung des Naturalismus, die der Wiener H. Bahr am lautesten proklamierte, hat neuerdings eine Hintansetzung des Stofflichen in der Erzählung bewirkt, dagegen zu stilistischen Neuerungen geführt. Scheint auf der einen Seite das Suchen nach einem neuen Prosastil erfreulich und verheißungsvoll, so liegt doch auch die Gefahr nahe, daß sich die novellistische Erzählung in gestammelte lyrische Ergüsse mit oder ohne Symbolik auflöst.