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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Gewerkvereine
*Getverkvereine, Gewerkschaften. Die
Gewerkvereinsorganisation der Arbeiter hat in den
letzten Jahren in vielen Ländern einen Fortschritt
aufzuweisen, wie dies im allgemeinen dem Wachsen
der Arbeiterbewegung entspricht.
In England, dem Mutterlande der gewerkschaft-
lichen Organisation, haben sich auf diesem Gebiete
mannigfache interessante Erscheinungen ergeben.
Charakteristisch ist dort namentlich die Bildung von
G. der ungelernten Arbeiter, die sich ihren Tendenzen
nach wesentlich von den ältern G. unterscheiden. Die
"neuen" G. lassen nämlich das Hilfskassenwesen bei
ihrer Thätigkeit zurücktreten, sie pflegen namentlich
nur die Streikunterstützung und huldigen überhaupt
viel mehr aggressiven Tendenzen; daß sie die An-
sammlung von Fonds zur Gewährung von Unter-
stützungen für den Fall der Krankheit, der Invali-
dität u. s. w. beiseite lassen, hat aber nicht allein
darin seinen Grund, daß die Vereine dagegen be-
wahrt werden sollen, den Lohnkampf aus Rücksichten
auf das Vereinsvermögen zu bedächtig zu führen,
oder daß das Interesse der Arbeiter nicht von den
Zielen der Arbeiterbewegung abgelenkt werde, son-
dern auch in dem Umstände, daß es sich bei diesen
G. um weniger leistungsfähige Arbeiterschichten han-
delt und höhere Mitgliedsbeiträge die Mitglieder-
anzahl beeinträchtigen würden, deren Größe aber in
hoyem Maße der Agitation zu gute kommt. Der
neue Trade-Unionismus stellt ferner ungleich mehr
und radikalere Ansprüche an eine Beeinflussung des
Arbeitsverhältnisses durch den Staat und steht der
Socialdemokratie sehr nahe. Die früher erwähnten
Umstände machen es aber auch begreiflich, daß die
Organisation in den neuen G. viel weniger fest ist als
in den alten G. mit geordneten Kassen; so hat, um
ein sprechendes Beispiel anzuführen, der unter den
neuen Verbänden meistgenannte Gewerkverein der
Dock-, Werft- u. s. w. Arbeiter, welcher, nach dem
aroßen Dockarbeiterausstand 1889 gegründet, den
Ausgangspunkt sür die Gewerkvercinsorganisation
der Ungelernten bildet, Ende 1889: 30932,1890:
57 000 Mitglieder, welche Zahl 1891 auf 30000,
Ende 1894 auf 10000 gesunken ist. Da die neuen
radikalen G. auch die Gewerkvereinskongresse be-
schicken, hat sich in den Beschlüssen der letztern wieder-
holt eine bemerkenswerte Wandlung gezeigt. Ins-
besondere zeigte sich ein Anwachsen der Tendenz zu
Gunsten der Staats tervention bei Fragen des Är-
beitsverhältnisses und der Annahme des socialdemo-
kratischen Programms, welche Tendenz ihren Höhe-
punkt in dem Kongreß zu Norwich 1894 erreichte.
Ein jäher Umschlag trat jedoch bei dem Kongreß zu
Cardisf 1895 ein, auf welchem die socialistische Partei
in der Minderheit war und demgemäß aus dem par-
lamentarischen Ausschuß fast gänzlich beseitigtwurdc.
Diese Linderung hängt teils mit dem bereits be-
merkten Rückgänge der G. der ungelernten Arbeiter,
teils damit zusammen, daß die Organisation des
Kongresses umgestaltet worden war, um ihn zu einer
thunlichst getreuen Vertretung der gewcrkvereinten
Arbeiter zu gestalten. So wurden alle Personen von
der Zulassung als Delegierte ausgeschlossen, die nicht
mehr selbst Arbeiter oder nicht dauernd Angestellte
eines Gewerkvercins sind; es wurde Vorsorge ge-
troffen, daß die einzelnen Vereine ein nach ihrer
Mitgliederzahl abgestuftes Stimmrecht ausüben kön-
nen, den ^i-acls <^0uncil3 fokalen Gewerkvereins-
verbänden) war zur Hintanhaltung von Doppel-
vertretungen die direkte Vertretung entzogen.
Über den dermaligen Stand der G. geben Aus-
kunft die jährlichen Berichte des Arbeitskorrespon-
denten des Handelsamtes (u. d. T. "kepoi-t on ^i-aäk
Union"" erschienen für die I. 1889-93) sowie der
"^dstract of iHdour 8wti8tic8", der dem Jahres-
bericht des Arbeitsdepartements beigegeben wird
(letzter: "seconä lmmial Import", erschienen 1895).
Hiernach erstatteten 1893: 677 G. Berichte; sie zähl-
ten 1270789 Mitglieder, hatten 1982188 Psd. St.
Einnahmen, 2 232 290 Pfd. St. Ausgaben und
Ende 1893: 1 650058 Pfd. St. Fonds. Die Lei-
stungen im einzelnen sind folgende:
Ausgaben
Vereine
Mitglieder
Betrag
Pro Kopf der Mitglieder



F?l.
S.
Arbeitslosenunterstützung Streikunterstützung . . . Krankenultterstützuttg . . Unfallunterstützimg . . . Invalidenunterstützung . Begräbnisgeld..... Andere Ausgaben....
373
328 225 98 89 385
827 423
1083 817 620 626 414 989 458 678 981 552
512 352 724 354 237 669 26 071 117 339 93 523 519 981
l ! ! ! I ! Ü
8 11 3
1 1
8
10 5
Insgesamt j - j - j2 232 290! 1 j 15 ! 2
Die Verteilung der G. auf die einzelnen Berufs-
zweige war Ende 1893 (einschließlich 5 weiterer Ver-
eine, deren Mitglieder bereits bei andern G. mit-
gerechnet und oben übergangen sind) wie folgt:
Baugewerbe...........
Metall- und Maschiuenindustric,
Schissbau........... 139
Holzbearbeitung, Möbelindustrie . 44
Bergwerke, Steinbrüche..... 75
Nahruugs- und Tabaksindnstrie. . 23
Glas-, Thunwarcn-, Gummi- und
Lederindustrie......... 23
Papierindustrie, Buchdruck .... 35
Textilindustrie......... 90
Vetlciduugsiudustrie....... 22
Transportwesen......... 42
Landwirtschaft, Arbeit im allge-
meinen ............ 39
Verschiedene Beschäftigungen . . . i 62
163 449
230819
21676
288 33?
15 632
11509
44 451! 1
149 256! 1
78233 1
115533 -
124 518 -
27 346! -
18
14
10
Im Deutschen Reiche wird 1895 die Anzahl
aller in Interessenvertretungen organisierten Ar-
beiter auf über 400 000 geschätzt. Die beiden Zaupt-
gruppen bilden die deutschen (Zirsch-Dunckerschen) G.
und die socialdemokratischen Gewerkschaften.
Die Gewerkvereine hatten ihren Tiefstand in
der Mitgliederanzahl zur Zeit des Deutsch-Französi-
schen Krieges, indem diese Ende 1870 etwa 6000 be-
trug. Sie war Ende 1880 auf 21000, Ende 1890 auf
63486 gestiegen und erhielt sich seitdem mit einzelnen
! Schwankungen so ziemlich auf dieser Höhe; für Ende
1895 wird sie mit 66 759 angegeben. Die Vereine
pflegen nach wie vor eifrig das Unterstützungswesen,
wenngleich die zwei großen Invalidcnkasfen (1889
die Verbandsinvalidenkasse, 1892 die Invalidenkasse
des größten der Vereine, des Gewcrkvcreins der
Maschinenbau-und Metallarbeiter) infolgcderrcichs-
gcsetzlichcn Organisierung der Alters- und Invali-
ditätsversichcrung liquidieren mußten. In neuerer
Zeit wird dagegen der Arbeitslosen- und Wander-
unterstützung eine wachsende Verbreitung zu teil,
und 1894 wurden zu diesem Zwecke unter verschie-