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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Indische Religionen

des Çivaismus ist. Die Tantra sind ihrem Hauptinhalt nach Handbücher der Zauberei und Geheimkunst. Sie lehren, wie man Zauberkräfte erlangen kann durch bestimmte Sprüche, mystische Silben und Buchstaben, Diagramme, magische Kreise; sie geben Anleitung, um die Stimmen der Tiere kennen zu lernen, wie man Krankheiten hervorrufen und heilen, bestimmte Dämonen für sich gewinnen oder vertreiben kann; Astrologie und Alchimie spielen darin eine Rolle. Sie werden alle zurückgeführt auf eine Upanishad (s. d.), die Kaula-Upanishad, und die Bräuche, denen die Çāktā "der linken Hand" folgen, heißen die Kaulabräuche. Die Çāktā zerfallen in zwei Klassen, die "Çāktā der rechten Hand" und die "Çāktā der linken Hand". Die erstern verehren die Çakti nach den Vorschriften des Veda und der Purāṇa, zuweilen mit blutigen Opfern, aber ohne anstößige Gebräuche und öffentlich. Der Çaktidienst der "Çāktā der linken Hand" dagegen ist ein geheimer und höchst obscöner. Männer und Frauen feiern ihn gemeinsam; sie bilden bei ihren Zusammenkünften einen Kreis, "den Kreis des Bhairava" (d. h. Çiva), innerhalb dessen alle Kastenunterschiede aufhören. In seiner Mitte sitzt eine nackte Frau als Symbol der Çakti, und Trunkenheit und Unzucht stehen im Mittelpunkt der Feier. Çivaitisch sind vorwiegend auch die Thags (s. d., Bd. 15), im Dekan sehr zahlreich die Dschangamā oder Lingavat, gewöhnlich Lingaiat oder Lingajat genannt, die das Lingam an einem Teile ihres Körpers oder ihrer Kleidung tragen. Zu den Çivaiten gehören ferner die Dschōgi (s. d., Bd. 5), die als Gaukler, Zauberer, Musiker herumziehen.

Der Çivaismus hat seine Anhänger vorwiegend in den niedern Klassen der Bevölkerung; der bessere Teil neigt zum Vishṇuismus, der ebenfalls in viele Sekten zerfällt. Die Religion des Vishṇu (s. d., Bd. 16) trägt im Gegensatz zu der des Çiva einen milden, versöhnlichen Charakter. Ihr eigen ist das System der Verkörperungen (Sanskrit Avatāra) des Vishṇu, deren zehn angenommen werden, unter denen die als Rāma (s. d., Bd. 13) und Krischna (s. d., Bd. 10) religionsgeschichtlich die wichtigsten sind. Der Vishṇuismus hat ein doppeltes Gesicht. Einmal hat er die Neigung zur Beschaulichkeit und Spekulation, dann zu einem ausgelassenen Lebensgenuß. Man hat diese Seiten als Rāmaismus und Krischnaismus unterschieden, und danach trennen sich auch die Sekten. Unter den alten rāmaitischen Sekten ragt hervor die der Pāntscharātrā (s. d., Bd. 12) oder Bhāgavatā, die im 12. Jahrh. durch Rāmānudscha, einen Südinder, zu neuem Leben erweckt wurde. Die Rāmānudschā sind heute eine wichtige und zahlreiche Sekte im südl. Indien. Sie glauben, daß Vishṇu das höchste Wesen ist, das von Anfang an da war und der Schöpfer aller Dinge ist, sind also monotheïstisch (Sanskrit advaita = nicht-dualistisch). Sie zerfallen in zwei Abteilungen, die sich feindlich gegenüber stehen; die eine, die südl. Schule, lehrt, daß Rāma-Vishṇu den Menschen errettet ohne sein Zuthun, ohne seinen freien Willen, wie eine Katze ihre Jungen faßt (woher diese Lehre die "Katzenlehre" heißt), die andere, die nördl. Schule, daß der Mensch Rāma suchen und ihn umarmen muß, wie ein Affe seine Mutter (woher der Name "Affenlehre"). Noch zahlreicher als die Rāmānudschā sind die Rāmānandā, gegründet von Rāmānandā im 14. Jahrh. Sie sind besonders zahlreich um Agra, verehren außer Rāma und seiner Frau Sītā auch den Affen Hanuman (s. d., Bd. 8) und haben freiere Speise- und Kastengesetze als die Rāmānudschā, von denen sie sich sonst wenig unterscheiden. Rāmānanda hatte zwölf Schüler, unter denen berühmt ist Kabīr, der Gründer der Sekte der Kabīr Panthī, der sehr energisch gegen die Vielgötterei auftrat, nur die Verehrung von Rāma oder Vishṇu als des einen Gottes zuließ und sehr strenge Moralgesetze aufstellte. Auf Kabīrs Lehren fußt Nānak, der Gründer der Sikh (s. d., Bd. 14), der eine Vereinigung des Hinduismus mit dem Islam anstrebte.

Die krischnaitischen Sekten verehren Vishṇu in seiner Verkörperung als Krischna, und zwar den jugendlichen Krischna, dessen ausgelassenes Leben mit den Hirtinnen ein beliebter Gegenstand für die Dichter gewesen, am glühendsten von Dschajadeva (s. d., Bd. 5) geschildert worden ist. Das Jugendleben Krischnas bietet einige Züge, die auffallend an christl. Erzählungen aus dem Leben Jesu erinnern. Sein Pflegevater zieht mit seiner schwangern Frau nach Mathurā, um seine Steuern zu zahlen, zur Zeit als Krischna geboren wird, was in einem Kuhstall oder einer Hürde (vgl. die Krippe) geschieht. Wie Christus wird Krischna von einem grausamen König verfolgt, der alle männlichen Kinder zu töten befiehlt, die zu der gleichen Zeit wie Krischna geboren sind; wie Christus wird Krischna durch die Flucht gerettet, indem ihn Vasudeva, der ind. Christophorus, durch das Wasser trägt, das, obwohl angeschwollen, ihm nur bis an die Knie reicht; das Geburtsfest beider wird gefeiert und Dēvakī, die Mutter Krischnas, als Madonna lactans dargestellt (vgl. Weber, Über die Kṛishṇajanmāshṭamī, Krishṇas Geburtsfest, Berl. 1868). Eine direkte Entlehnung seitens einer der beiden Religionen ist schwerlich anzunehmen; wahrscheinlich liegt der Fall hier ebenso wie beim Buddhismus (s. Buddha, Bd. 3), daß beide Darstellungen auf eine dritte, gemeinsame Quelle zurückgehen. Unter den Krischnaiten ragen zwei Sekten hervor, die Anhänger des Tschaitanja (Sanskrit Caitanya) und des Vallabhātschārja (Sanskrit Vallabhācārya). Tschaitanja wurde 1485 in Bengalen geboren, und dort und in Orissa sind seine Anhänger sehr zahlreich. Er predigte die Gleichheit der Kasten und die Verdienstlichkeit der Ehe. Zu Krischna soll der Gläubige eine Liebe fühlen, wie der Jüngling zur Jungfrau, und diese Liebe soll durch Singen und Tanzen oder Beschaulichkeit entfacht werden. Eine Ohnmacht des Gläubigen gilt für das Zeichen, daß Krischna seine Liebe angenommen hat. Tschaitanja selbst war Anfällen solcher religiösen Ekstase ausgesetzt und soll während eines solchen ertrunken sein. Nach seinem Tode wurde er für eine Inkarnation des Krischna erklärt. Gerade dem entgegengesetzten Teile von Indien, dem Nordwesten, gehören die Anhänger des Vallabhātschārja an. Derselbe wurde 1479 geboren und ließ sich nach längern Wanderungen durch ganz Indien in Benares nieder. Die Vallabhātschārja hat man die Epikureer des Vishṇuismus genannt. Ihr System führt den Namen Pushṭimārga, "der Weg zum Wohlbefinden", und lehrt, daß man Krischna verehren soll, indem man sich den Freuden dieser Welt hingiebt. Die geistlichen Oberhäupter, Mahārādschā (Großkönige) genannt, gelten als Inkarnationen Krischnas, denen man dieselbe Ehre erweisen muß wie dem Gotte selbst. Und da Krischnas Verkehr mit den Hirtinnen als Vorbild genommen