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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Indochinesische Sprachen und Völker

und den größten Teil Hinterindiens ausbreitet, ist es nun, die man jetzt mit dem Namen indochinesisch bezeichnet. Dieser Name ist auch so übel nicht, zumal wenn man ihn als die Bezeichnung einer Familie auffaßt, die, mit den Chinesen stammverwandt, innerhalb der vorderind. Kultursphäre wohnt; und das ist ja der Fall bei allen diesen Völkern, die Chinesen nicht ausgenommen.

Dem Rassentypus nach geboren die Indochinesen zu den Mongolen; als charakteristische Eigenschaften ihrer Sprachen giebt man gemeiniglich an, daß sie einsilbig, isolierend und (teilweise) singend sind, d. h. daß jedes ihrer Stammwörter nur aus einer Silbe besteht, daß sie, da diese Stammwörter in der Regel unveränderlich sind, alle Beziehungen der Wörter zu einander nur durch die Stellung, durch lockere Wortverbindung und zugesetzte Hilfswörter auszudrücken vermögen, und daß bei dem größern Teil von ihnen jedem Wort ein bestimmter, ihm untrennbar anhaftender Tonfall (Tonaccent) eigen ist. Diese Definition ist indessen nicht mehr ganz zutreffend. Bei genauerer Untersuchung hat sich nämlich gezeigt, daß ein nicht unansehnlicher Teil der dazugehörigen Sprachen, z. B. die Sprachen von Nepal, von Assam und Nordbirma, weit eher zu den agglutinierenden gehören. In der That ist die Isolierung fast nirgends ganz rein vorhanden. Das Altchinesische zwar darf als ein Muster dieser Sprachform gelten (während das Neuchinesische auf dem Übergang zur Agglutination steht), Tibetisch und Birmanisch dagegen zeigen wenigstens noch deutliche Spuren vormaliger Agglutination. So sind die Konsonantenhäufungen im Anlaut der Wörter in der tibet. Schriftsprache, die überdies auch teilweise die Einsilbigkeit durchbrechen, von Lepsius, Kühn, Gabelentz u. a. als einstige Präfixbildungen nachgewiesen worden, und im Birmanischen werden zweisilbige Nomina durch ein Präfix gebildet; beide Sprachen zeigen außerdem einen entschiedenen Ansatz zur Flexion in der Unterscheidung des intransitiven und transitiven Verbi durch Anlautveränderung (die sich übrigens auch im Siamesischen und Chinesischen hat nachweisen lassen), und dem Tibetischen allein eigentümlich ist eine regelmäßige Tempusbildung durch Ablaut. So sieht man also, daß eine ganze Skala verschiedenartiger Sprachformen zu dieser Familie gehört. Und nun ist es höchst wahrscheinlich, daß sich alle diese Formen aus der agglutinierenden entwickelt haben. Daß die Einsilbigkeit der Stammwörter auf Mehrsilbigkeit zurückgehen kann, bezeugt nicht bloß die erwähnte Erscheinung des Tibetischen, man findet dasselbe Streben nach Zusammenziehung in allen andern dieser Sprachen, auch, deutlich nachweisbar, im Chinesischen. Ebendaraus haben z. B. Lepsius ("Über chines. und tibetan. Lautverhältnisse", in den "Abhandlungen" der Berliner Akademie, 1861), R. Douglas u. a. in glaubwürdiger Weise die Tonaccente abgeleitet, und selbst die Isolierung, d. h. die starren Stellungsgesetze, weisen, wie Kühn gezeigt hat, auf eine vormalige freiere, durch Formelemente unterstützte Stellung hin. Man wird also die indochines. Sprachen fortan als solche bezeichnen dürfen, die bei sonst verschiedenartigem Sprachbau solidarisch sind in der starken Tendenz zur Einsilbigkeit, Isolierung und Erzeugung von Tonaccenten.

Natürlich kann eine so große und bei manchmal verblüffender Nähe der Verwandtschaft im einzelnen doch so verschiedene Sprachrasse nicht ohne Unterabteilungen sein. Man kann denn auch zwei große Gruppen: eine westliche (tibeto-birmanische) und eine östliche (siamesisch-chinesische) im allgemeinen deutlich unterscheiden, die sowohl im Wortschatz wie im Sprachbau differieren. Die westl. Gruppe, die im ganzen den ältern Typus bewahrt hat, neigt mehr zur Agglutination und stellt gewöhnlich das Objekt vor das Verbum, das Attribut vor sein Nomen (attributive Sprachen), die östliche stellt das Objekt nach, in der Stellung des Attributs dagegen weichen die Thaisprachen, deren bekanntester Vertreter das Siamesische oder Thai ist, vom Chinesischen ab, mit dem sie sonst recht innig zusammenhängen: jene stellen ganz formlos das Attribut ebenfalls nach (prädikative Sprachen), das Chinesische vor, wie denn dieses, mit Steinthal zu reden, die drei Grundverhältnisse der menschlichen Rede, das attributive, objektive und prädikative, scharf durch die Stellung auseinander hält. Indessen sind diese Unterschiede keineswegs bindend für alle Sprachen, die man ihrem ganzen Habitus nach zu der einen oder andern Gruppe zählen muß; so steht z. B. im Khamti, das zur Thaifamilie gehört, das Objekt immer vor dem Verbum, und das kann auch im Siamesischen selbst, im Schan, im Neuchinesischen geschehen, ja sogar das Altchinesische bewahrt in der Anteposition des Pronomens als Objekt Spuren dieses Wechsels. Das ist eben noch ein Rest der ehemaligen freiern Stellung.

Hauptsächlich wegen dieser Schwankungen ist es noch nicht möglich gewesen, innerhalb der großen Gruppen eine ganz genaue Einteilung vorzunehmen. Am wenigsten in der westlichen. Hier hat man als Kultursprachen das Tibetische und das Birmanische, beide von Indien aus (jene im 7. Jahrh. n. Chr., diese wohl schon eher), mit Schrift und Litteratur versehen. Wie sich aber die zahlreichen kleinern Sprachen und Dialekte um sie gruppieren, das bleibt noch zu ermitteln. Ja, es schweben sogar noch Grenzstreitigkeiten zwischen der westl. und der östl. Gruppe im ganzen. Jene erstreckt sich bis nach Sze-tschwan und Jün-nan hinein, aber auch die Taivölker sitzen in ununterbrochener Reihe vom Golf von Siam bis nach Jün-nan, oder, wenn die Miao-tse zu ihnen gehören, was sehr wahrscheinlich ist, auch bis Kwei-tschou. Die Scheidung wird dadurch erschwert, daß man gerade von den Stämmen dieser Provinzen noch wenig Genaues weiß. Vorläufig wird man die Lolo, Lisau, Man-tze u. a. in Jün-nan als Thaistämme ansehen dürfen. Sonst ist es bei der östl. Gruppe besser bestellt. Die Thaivölker, so genannt, weil sie alle den Stammnamen Thai führen, gliedern sich deutlich in die Lao, von denen die Siamesen nur ein Zweig sind, die Schan und die Khamti (die Ahom in Assam sind ausgestorben), die sämtlich ebenfalls von Indien aus kultiviert worden sind; das Chinesische mit seinen sieben Dialekten (deren innere Abgrenzung übrigens noch nicht in allen Fällen sicher ist) ist wohlbekannt.

Die indochines. Sprachvergleichung liegt noch zu sehr in den Anfängen, als daß sie sich schon mit der ohnehin prekären Frage nach der Urheimat der indochines. Völker hätte abgeben können. Es ist jedoch aus verschiedenen Gründen, wovon ihre übereinstimmende Tradition nicht der schwächste ist, sehr wahrscheinlich, daß ihre Wiege irgendwo im westl. China gestanden hat; jedenfalls findet man die Miao-tse als ein mächtiges Volk schon in den ältesten Zeiten der chines. Geschichte im östl. Sze-^[folgende Seite, Bindestrich bleibt erhalten!]