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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Kirchenpolitik
der nationalen Interessen und Pflichten universale
zu setzen. Zwar hat Karl d. Gr. als obersten Grund-
satz seiner K. immer die Forderung der Unterordnung !
der Kirche und des Papsttums unter den Staat und
das Kaisertum betrachtet und diese Forderung durch- >
gesetzt; einzelne spätere Kaiser übernahmen gleich-
falls diese K., besonders wenn Zustände der Schwäche ,
oder Korruption des Papsttums ihnen hierbei zu
Mfe kamen. Im ganzen aber bestand seit dem Ende
des 11. Jahrh. (Gregor VII.) die staatliche K. in der ^
vollen und rückhaltlosen Unterwerfung der Staats- >
gewalt unter die Kirche. >
(5ine K. der allmählichen Emancipation des Staa- ^
tes von der Kirche begann seit Anfang des 14. Jahrh.,
zuerst in Frankreich unter Philipp dem Schönen '
gegenüber Bonifacius VIII., weiterhin in Deutsch- ,
land unter Ludwig dem Bayern gegenüber Io- ^
dann XXII. Diese K. führte in Frankreich zu einer
weitgehenden Befreiung des Staates von den hiero-
t'rach'chen Ansprüchen der Kirche, wie sie in den sog.
gallikanischen Freiheiten zum Ausdruck kam. Ande-
rerseits war die französische K. dem Protestantismus
gegenüber bis zur Vernichtung (Bartholomäusnacht,
Hugenottenkriege u. s. w.) intolerant; erst durch die
grotze Revolution erhielt der Protestantismus in
Frankreich das Recht der Existenz. - Die K. in
Rußland war von Anbeginn unduldsam im Sinne
der griech.-kath. Kirche und ist dies bis auf den heu- !
tigen Tag geblieben, wovon die Bedrängnisse der !
Evangelischen in den Ostseeprovinzen Zeugnis geben. ^
- In Deutschland hat die K. in den verschiedenen
Zeiten sehr verschiedene Gestaltungen angenommen, z
Im allgemeinen war dieselbe bis in den Anfang
dieses Jahrhunderts eine streng exklusiv konfessionelle,
entweder katholische oder evangelische; nur in Reichs-
sachen und für Reichsinstitutionen (Reichskammer-
gericht) wurde Parität beobachtet; aber je schwächer
das Reich wurde, desto geringfügiger wurde auch >
diese Parität. Auch in allen übrigen Staaten war
das Princip der K. bis auf die neueste Zeit streng
konfessionelles Staatskirchentum und Unduldsamkeit
gegen andere Konfessionen und Religionen. Eine
Ausnahme hiervon machte unter den größern deut-
schen Territorien nur Brandenburg-Preußen, wo
wenigstens für die Länder der jülichschen Erbschaft
und für Ostpreußen seit Anfang des 17. Jahrh, den
Katholiken Toleranz und bald volle Parität gewährt
wurde, ein Princip, das Friedrich d. Gr. auf die
ganze Monarchie und auch auf andere Konfessionen
und Religionen ausdehnte. Innerhalb des oben
bezeichneten Staatskirchentums war freilich die K.
der Staaten zu verschiedenen Zeiten und unter ver-
schiedenen .Herrschern eine vielfach wechselnde und
schwankende von der vollständigen Unterwerfung
unter die kirchlichen, speciell päpstl. Ansprüche bis
zu den härtesten Kämpfen.
Das 19. Jahrh, hat infolge der Französischen Re-
volution die K. der Parität und Religionsfreiheit,
die bis dahin nur in Preußen eine Stätte gehabt
batte (vgl. Zorn, Die Hohenzollcrn und die Reli-
gionsfreiheit, Verl. 1896), auf die meisten Kultur-
staaten ausgedehnt; nur Rußland bewegt sich noch
in den Bahnen griech.-kath., eine Anzahl mittet- und
südamerik. Staaten in den Bahnen röm.-kath. In-
toleranz, indes die skandinav. Länder noch an der
prot. Exklusivität, wenn auch nicht in intoleranter
Weise, festhalten. In England, der Nordamerikani-
schen Union, Belgien, Holland herrscht die K. der
Religionsfreiheit, welche freilich in Belgien wieder
Artikel, die man unter K verm
durch das Mittel der Parlamentsherrschaft zu einem
großen Übergewicht des Klerikalismus und einer
Unterwerfung von Staatseinrichtungen, insbeson-
dere der Schule, unter die Kirche geführt hat. In
Italien ist gleichfalls die K. der vollen Religions-
freiheit anerkannt, ebenso in Frankreich unter der
dritten Republik; doch hat auch hier zeitweise der
Ultramontanismus völlig die Herrschaft gewonnen
<Mac-Mahon, Broglie), immerhin nur für kurze
Zeit; die geacnwärtige französische K. ist eher kirchen-
fcindlich. M Österreich ist seit Joseph II. die K.
des Toleranzprincips anerkannt; dasselbe ist auch
formell immer festgehalten worden, was freilich nicht
ausschloß, daß der östcrr. Kaiserstaat sich zeitweise
ganz unter die klerikalen Ansprüche beugte, so ins-
dcsondere unter der Herrschaft des Konkordats von
1855 bis 1866. Llhnlich in Bayern, wo unter dem
gleichen Princip ein ganz freisinniges Ministerium
Montgclas, wie ein ganz klerikales Ministerium Abel
möglich war. In der zweiten Halste des 19. Jahrh,
babcn die bayr. Könige stets eine gemäßigte K. unter
strenger Aufrechterhaltung der Parität verfolgt und,
wenn auch unter Schwankungen, innegehalten. In
Preußen wurden die Traditionen der K. Friedrichs
d. Gr. ins 19. Jahrh, übernommen und unter Fried-
rich Wilhelm III. auch im ganzen festgehalten. Unter
Friedrich Wilhelm IV. trat eine zeitweilige Ver-
wirrung ein durch das machtvolle Hervortreten
unklarer Ideen vom sog. christlichen Staate, deren
geistvollster Vertreter Stahl war und die am König
selbst und seinen vertrautesten Ratgebern (Gerlach)
eine starke Stütze hatten. Das publizistische Organ
dieser K. war und ist bis heute die "Krcuzzeitung".
Unter Wilhelm I. machte nach dem Vatikanischen
Konzil sich in der K. ein starker Gegensatz gegen die
kirchcnpolit. Romantik Friedrich Wilhelms IV. gel-
tend, die zu den schweren kirchenpolit. Kämpfen mit
der kath. Kirche seit 1873 führte. Nach dem Tode
Pius' IX., der alles gethan hatte, um die Gegensätze
bis aufs äußerste zu verschärfen, trat an Stelle des
"Kulturkampfes" infolge weitgehenden Entgegen-
kommens des Staates gegen die kirchlichen Forde-
rungen eine K. des moäuz vivcmdi, welche bis zur
Stunde fortdauert und sich in einer den kirchlichen
Ansprüchen überaus günstigen Vcrwaltungspraris
äußert. Diese Verwaltungspraxis für das Gebiet
der Schule gesetzlich festzulegen, wurde durch Graf
Zedlitz ein energischer Versuch gemacht, der an einem
heftigen Widersprüche der öffentlichen Meinung schei-
terte. Durch ein starkes Überhandnehmen socialisti-
scher Gedanken in der kath. und mehr noch innerhalb
der evang. Geistlichkeit (Stöcker, Naumann) sowie
durch das Auftreten einer die Grundsätze der Unab-
hängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen
Rechte vom Religionsbekenntnis wenigstens für die
Juden leugnenden und bekämpfenden polit. Richtuna
sind dcr K. des Staates, insbesondere in Österreich
und dem Deutschen Reiche, neue und große Schwie-
rigkeiten erwachsen, die direkt das große Princip der
Religionsfreiheit bedrohen.
Aus der obigen universalhistor. Skizze ergeben
sich die typischen Formen der staatlichen K. Dieselbe
besteht entweder in der principiellen Unterordnung
unter die Kirche, so daß die Staatsgesetzgebung nur
in den Schranken der Kirchengcsetzgebung gültig ist,
die Staatsverwaltung nach den Geboten und Ge-
sichtspunkten der Kirche geführt wird und die leiten-
den Persönlichkeiten, insbesondere die Minister, der
Kirche genehm sein müssen (Hierokratie, Kir-
ißt, sind unter C aufzusuchen. ^Z-l-