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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Pädagogik

ner genialen und liebedurchglühten Persönlichkeit die Herzen, und sein Gedanke, dem armen Volk zu helfen durch Entwicklung seiner eigenen physischen und geistigen Kräfte, wurde in die große Arbeit an der Wiederaufrichtung des preuß. Staates eingefügt. Seit jener Zeit steht die deutsche Volksschule unter dem Einfluß Pestalozzis.

Gleichzeitig mit diesem Eifer für die praktische Neugestaltung des preuß.-deutschen Schulwesens erwachte auch das Interesse für theoretische Neubildungen. Seit 1779 beschäftigte man sich mit der Geschichte der P., Niemeyer faßte in seinen "Grundzügen der Erziehung" (1796) eklektisch das praktisch Geübte zum System zusammen, Kant und Fichte, Goethe und Jean Paul gaben allerlei Anregungen, und Schleiermacher und Herbart wurden die Systematiker der P., wobei jener mehr im großen Stil die allgemeinen Fragen der Erziehung, dieser mehr methodisch die Technik des Unterrichts ins Auge faßte. Auch hierbei wirkte Pestalozzi vielfach anregend mit. In Preußen scheiterte zwar der Versuch Süverns, den Pestalozzischen Gedanken von einer innern Zusammengehörigkeit aller Schulgattungen in einem umfassenden Schulgesetz zu verwirklichen; aber im einzelnen wurde durch ihn und Joh. Schulze, in Bayern durch Niethammer und Thiersch der Neuhumanismus in den Schulen ein- und durchgeführt; doch behielt trotz aller Griechenbegeisterung das Lateinische seinen historisch ersten Platz; und noch konservativer zeigten sich darin Württemberg und Sachsen. Wurde das Gymnasialwesen streng bureaukratisch geordnet und alles staatlich bestimmt, so ließ man dagegen das Realschulwesen vorläufig noch sich frei und individuell entwickeln. Im 18. Jahrh. war die Realschule als ein Bündel von allerlei Fachschulen gedacht und eingerichtet, durch Schmieder, Spilleke, Nagel u. a. wurde auch sie zur allgemeinen Bildungsanstalt, in der an Stelle der alten die neuern Sprachen und ein Plus von Mathematik und Naturwissenschaften gelehrt wurden. Da aber in Preußen den höhern Schulen vor allem die Vorbereitung auf die Beamtenlaufbahn oblag und ihnen überdies seit 1814 unter gewissen Bedingungen das Danaergeschenk der Berechtigung zum einjährigen Heeresdienst verliehen war, so mußten die norddeutschen Realschulen vielfach auch das Lateinische unorganisch ihrem Lehrplan einfügen, und das ließ sie längere Zeit zu keiner rechten Klarheit und nicht zu vollem Gedeihen kommen.

V. Der Kampf um die Schulreform. Gegen das scheinbar so wohlgeordnete preuß. Gymnasialwesen erhob nun aber Thiersch schon 1829 von pädagogischer Seite her Bedenken: die gleichzeitige Steigerung des klassischen und des realistischen Unterrichts (der Utraquismus) führe notwendig zur Erschöpfung und Ermattung der Schüler; und von hygieinischer Seite trat der Medizinalrat Lorinser 1836 "zum Schutz der Gesundheit in den Schulen" in gleichem Sinne gegen das herrschende Schulsystem auf. Beide Angriffe wurden zwar zunächst noch abgeschlagen, dem letztern namentlich durch Einführung des früher politisch verdächtigen Turnunterrichts begegnet; aber die Klagen und Anklagen sind seither nur immer heftiger wiederholt worden. Dazu kam in der Reaktionszeit noch der Vorwurf der Unchristlichkeit gegen die Gymnasien und die Gymnasiallehrer; und nach 1870, wie ähnlich schon im Sturmjahr 1848, nahm das specifisch nationale Empfinden an dem Umweg unserer Bildung über das Lateinische und Griechische Anstoß und forderte zum mindesten eine stärkere Betonung des deutschen Unterrichts und der vaterländischen Geschichte. Endlich schien der fortlaufend wachsende Einfluß der Naturwissenschaften in neuerer Zeit eine zunehmende Vermehrung des ihnen und der Mathematik gewidmeten Unterrichts nötig zu machen. Aus solchen Erwägungen heraus fanden dann Umgestaltungen des Lehrplans 1856 durch Wiese, ganz besonders aber 1882 durch Bonitz statt. Doch konnten alle Konzessionen den Gymnasien die verlorene Gunst nicht wieder zurückgewinnen, und so tauchten immer neue und teilweise ganz radikale Vorschläge zu einer Reform unsers Unterrichtswesens auf; besonders populär war dabei der Gedanke der Einheitsschule. Diesem Überschwang und dieser Unruhe sollte die Berliner Schulkonferenz von 1890 ein Ende machen; aber die auf Grund ihrer Ergebnisse entworfenen Lehrpläne von 1892 befriedigten im Grunde niemand und mußten auch in wesentlichen Bestimmungen inzwischen bereits wieder modifiziert werden. So stehen wir im Kampf um die Schulreform noch immer mitteninne. Die Reformgymnasien nach dem Frankfurter Lehrplan (Direktor Reinhardt), an denen man mit dem Französischen statt mit dem Lateinischen beginnt und dieses erst in Untertertia, das Griechische erst in Untersekunda folgen läßt, bedeutet nur eine weitere Etappe in einer vielfach unsicher nach einem Neuen suchenden und empirisch experimentierenden Entwicklung. Um dem Utraquismus Rechnung zu tragen, hatte Wiese 1859 zwischen Gymnasium und lateinloser Realschule die Realschule I. Ordnung (Realgymnasium) als besondere Schulgattung eingeschoben; da ihr aber die notwendigen Berechtigungen, namentlich zum mediz. Studium, versagt blieben, so kam sie zu keinem vollen Gedeihen; und auch über das Maß des Lateinischen schwankten die Bestimmungen mehrfach hin und her; im Norden war dieses Maß fraglos unzureichend, in Württemberg, wo die Realgymnasien vielmehr Gymnasien ohne Griechisch waren, geschah darin des Guten zu viel. Auch die Zahl der lateinlosen Realschulen nahm zu, seit 1859 traten die Oberrealschulen als Schulen allgemeiner Bildung principiell gleichwertig neben Gymnasien und Realgymnasien, doch beeinträchtigen auch hier die Berechtigungsfrage und allerlei Standesvorurteile eine pädagogisch normale Entwicklung. Parallel mit der Unzufriedenheit des Publikums über die Schulen ging die der akademisch gebildeten Lehrer über ihre den Juristen gegenüber verkürzte Stellung in Gehalt und Rang, und daher bildeten sich Vereine zur äußern Hebung des Standes. Endlich nahm man sich, nachdem seit 1810 Prüfungsordnungen mehrmals die wissenschaftliche Vorbildung der höhern Lehrer geregelt hatten, neuerdings auch ihrer pädagogischen Ausbildung an und verlegte dieselbe in Preußen durch Einschiebung des Seminarjahrs nach Schluß der Universitätszeit an die Gymnasien, während in andern Staaten auch sie der Universität zugewiesen bleibt (Rein in Jena). Meist wird dabei die Herbartsche Methode angewendet, wofür besonders Frick und Schiller eingetreten sind, während Jäger, Ziegler u. a. vor den Übertreibungen dieser und der Methode überhaupt warnen. Den durch die Verstaatlichung des höhern Schulwesens auf dieses drückenden und die freie Bewegung vielfach hemmenden Bureaukratismus bekämpfen neuerdings vor allem Paulsen, Ziegler u. a. Übrigens sind alle diese Bewegungen nicht auf Deutschland