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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

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Die hellenische Kunst.

Dorischer Stil. Der älteste ist der dorische Stil. Der Säulenschaft steht ohne Zwischenglied unmittelbar auf der Grundfläche (Stylobat), seine Höhe beträgt 4-6½ untere Durchmesser, er ist mit Rinnen versehen, die Bekrönung (Kapitäl) hat als Hauptglieder den kesselförmigen Echinus und darüber die viereckige Platte des Abacus. Im dorischen Stil prägt sich Kraft und Gesetzmäßigkeit aus, alle Glieder stehen in klarem Zusammenhange, durch schlichte Einfachheit der Formen wird der Eindruck der Größe erzielt. Wohl zeigen die ältesten Denkmale des Stiles noch nicht die volle Durchbildung der schönen Maßverhältnisse, doch schon um die Mitte des 6. Jahrhunderts ist der Stil ausgereift, und die Werke sind von vollendeter Schönheit. Zu Ende des 4. Jahrhunderts trat dann eine Verweichlichung der Stilformen ein, und die späteren Bauten zeigen manche Mißverhältnisse.

Jonischer Stil. Jünger - wenn auch nicht erheblich - ist der jonische Stil. Der römische Schriftsteller Vitruv erzählt, die nach Kleinasien ausgewanderten Jonier hätten den dorischen Stil in der Weise umgebildet, daß sie anstatt der Verhältnisse des männlichen Körpers jene des weiblichen ihren Bauanlagen zu Grunde legten. Das ist nun allerdings eine Sage, aber in gewisser Hinsicht kennzeichnet sie treffend den Unterschied: der dorische Stil macht in der That den Eindruck des männlich Kräftigen, der jonische jenen des weiblich Anmutigen. Die Geschlossenheit des dorischen Stiles, bei welchem jedes Glied von dem anderen und vom Ganzen abhängig war, weicht im jonischen Stile einer größeren Freiheit, die Einzelglieder erscheinen mehr selbständig. Dort bedingt den Zusammenhang das Gesetz der Notwendigkeit, hier wird er durch den Einklang der verschiedenen frei entwickelten Teile erzielt.

^[Abb.: Fig. 94. Bildwerke vom Westgiebel des Tempels zu Aegina.

München, Glyptothek. (Nach Photographie von Bruckmann.)]