Schnellsuche:

Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Die hellenische Kunst

151

Die hellenische Kunst.

lichen Athena-Standbildern, doch ist auch in ihr durch Lockerung des linken Fußes die völlige Starrheit der Haltung vermieden. Die größere Freiheit in der Stellung der lemnischen Athena ist vielleicht darauf zurückzuführen, daß diese ein Weihgeschenk - zu Ehren der Göttin - war und die Athena Parthenos mehr gottesdienstlichen Zwecken diente.

Frauengestalten vom Parthenon. Die Bildwerke vom Parthenon, die mit Phidias in unmittelbarem Zusammenhang stehen, ergänzen das Bild, das wir uns von seiner Art der Bildung von Frauengestalten machen können, durch Beispiele für die Ausführung freierer, d. h. nicht durch Herkommen bestimmter Darstellungen.

Ich weise besonders auf die drei liegenden weiblichen Gestalten (Fig. 109) hin, deren Gewänder sich von denen der Athena sehr merklich unterscheiden. Der Künstler ging in der Gewandbehandlung geradezu auf malerische Wirkungen aus. Die Kleidung schmiegt sich in wunderschönem Faltenspiel bald den Körperformen innig an, bald verhüllt es diese oder läßt sie ganz frei. Die Fältelung ist nicht natürlich, d. h. so würden sich in Wirklichkeit die Gewänder nicht von selbst falten, sondern sie ist nach bestimmten Grundsätzen verschönert (idealisiert). Das Gleiche gilt von den Bildwerken des Frieses (Fig. 112), man sieht dort auch deutlich den Unterschied zwischen der aus feineren Stoffen bestehenden Frauenkleidung und der gröberen der Männer.

Die Nike aus Athen. Die Fortsetzung dieses Gewandstiles führte schließlich zu Künsteleien und Spielereien, bei denen der Hauptwert auf Wirkung durch schönen Linienfluß gelegt wurde, und die Freude an der leichten Ueberwindung der Schwierigkeiten der Steinbearbeitung und an der Fähigkeit, durch diese den Stein gleichsam in einen duftigen Stoff zu verwandeln, den Sinn für das Naturwahre ganz übertönte.

Als Beispiel gebe ich hier (Fig. 130) eine Nike von der Brüstung eines Tempels der Siegesgöttin in Athen, die im Laufe innehält, um etwas an ihren Sandalen zu ordnen. Das feine Linienspiel der Falten ist weder durch die Stellung noch durch den Stoff selbst begründet. Der Künstler der Nike war sicher durch die Parthenon-Bildwerke stark beeinflußt und bildete den Stil derselben zur Willkürlichkeit aus.

Die Hera des Vatikan und Hera Farnese. Auch in dem Standbilde der Hera (Fig. 131) ist der Einfluß des Phidias unverkennbar, doch bleibt der Künstler derselben in den Grenzen des in der Natur Möglichen. Das Urbild dieser Hera rührte wahrscheinlich von Alkamenes (S. 110), einem Schüler des Phidias, her. Der Eigenart der schönen Gemahlin des Zeus entsprechend, sind die Züge weicher, die Formen voller und frauenhafter als bei den Athenabildern des Phidias, die Haltung schmiegsamer und das Gewand weniger einfach und gefälliger in der Anordnung.

Das Hoheitsvolle der Göttin ist jedoch auch in der Hera vollkommen zum Ausdruck gebracht. Ich setze gleich daneben den Kopf einer Hera mit etwas strengerem Gesichtsausdruck. Es ist die sogen. Hera Farnese (Fig. 132), die

^[Fig. 163. Marmorner Prachtkrater aus der Villa Medici.

Florenz, Uffizien.]