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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Germanische Kunst

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Germanische Kunst.

Verwertung der Vorbilder, nach denen sie arbeiten. Mit kurzen Worten läßt sich die Kunstthätigkeit des ganzen Zeitraumes dahin kennzeichnen, daß sich das Walten eines neuen selbständigen Geistes kundgiebt, der aber noch nicht die richtige Form für seinen Ausdruck gefunden hat und nun danach ringt, aus fremden Vorbildern eine solche zu gewinnen. Die Gedanken und das Kunstgefühl sind vorhanden, aber noch nicht geklärt, es fehlt namentlich noch an den Fertigkeiten, welche die Voraussetzung für die freie Beherrschung der Formgebung sind. Das eifrige Bemühen im Lernen und Aneignen hat schließlich Erfolg, und in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts findet der germanische Kunstgeist seinen eigenen "Stil".

Diese Entwicklung fand erst statt, nachdem das Weltreich Karls des Großen zerfallen war, das Germanentum sich in Völker geschieden hatte. Im Westen und Süden war es endgiltig verwälscht worden. Die Franken auf dem Boden des alten Galliens waren diesem Schicksal verfallen und verschmolzen mit dem keltisch-romanischen Volkstum, welches das Uebergewicht behauptete. Noch zu Beginn der Herrschaft Karls war das germanische Wesen unter den Franken maßgebend, um 843 aber ist bereits die Scheidung des "französischen" Volkstums von dem reingermanischen der "deutschen" Nation vollzogen. In Italien war dieser Vorgang der Verwälschung schon früher zum Abschluß gelangt. Die berufenen Träger des germanischen Geistes werden nun die Stämme, welche sich zu dem "deutschen Volke" zusammengeschlossen hatten.

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Palastkapelle in Aachen. Der berühmteste Kirchenbau Karls des Großen ist seine Hofkirche in Aachen (Fig. 231). Trotz mancher Veränderungen hat sie sich im Allgemeinen doch so erhalten, daß ihre Eigenart noch deutlich erkennbar ist. In der Anlage ähnelt sie etwas der Kirche S. Vitale in Ravenna; wie bei dieser ist ein achtseitiger Mittelraum von einem breiten Umgang eingeschlossen, doch ist hier die Umfassungsmauer nicht wie der Mittelbau acht-, sondern sechzehnseitig. Auf der Bogenstellung des Unterstockes ruht ein breiter Umgang mit großen fensterartigen, durch Säulenstellungen geteilten Oeffnungen nach dem Innern zu. Auf den Mauern des Mittelbaues ruht die runde Kuppel. Die Abbildung zeigt einen Durchschnitt in der Längsrichtung, so daß der Aufbau deutlich erkennbar ist.

Dem Bau vorgelagert ist wie bei S. Vitale (Fig. 206) eine von zwei Türmen begleitete Vorhalle, ihr gegenüber ist der Altarraum angelegt. (Beide Räume sind in der Abbildung nicht mehr sichtbar.)

Halle vom Kloster Lorsch. Das Aeußere eines karolingischen Bauwerkes zeigt sich sehr gut an der Eingangshalle des Klosters Lorsch (Fig. 232), das im 8. bis 9. Jahr-^[folgende Seite]

^[Abb.: Fig. 234. Elfenbeinschnitzerei des Tutilo von S. Gallen.]