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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Germanische Kunst

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Germanische Kunst.

so scheint es fast, als wollten die Steinmetzen an denselben das verwirklichen, was an großen Bauten auszuführen ihnen versagt bleiben mußte. Der Stein ist in Wahrheit in ein Gewebe aus zarten Maßwerkformen verwandelt worden, das bis in die kleinsten Teile die liebevollste Ausführung zeigt.

Anwendung der Bauformen in der Kleinkunst. Daß bei der Allgemeinherrschaft bestimmter Formen diese auch bei den Werken der eigentlichen Kleinkunst fast ausschließlich auftreten, ist nach diesen Ausführungen wohl leicht erklärlich. Vielleicht hat auch öfters eine Wechselwirkung der Art stattgefunden, daß erst einzelne neue Formen an Werken der Kleinkunst erfunden wurden, die man dann in der Baukunst verwendete. Eine Gefahr bestand (und wurde auch nicht vermieden), daß die aus der Baukunst auf die Kleinkunst übertragenen Formen falsch angewendet wurden, und daß sie infolge des Bestrebens, möglichst Zierliches und Neues zu erfinden, verwilderten. Der erste Fall trat häufig ein, indem z. B. die Wände der Geräte (sehr häufig an Weihrauchfässern) ganz aus gotischen Fenstern zusammengesetzt wurden oder Strebebogen u. s. w. als bloßer Zierat benutzt wurden. Die Verwilderung der Formen äußert sich in Künsteleien, die durch die Schwierigkeit ihrer Herstellung Bewunderung erregen sollten. Das Maßwerk wird seltsam verschnörkelt und schließlich in Astwerk verwandelt. Während in der Baukunst, selbst in der Zeit des hochentwickelten Schmuckstiles, der Schmuck der Bauwerke nie deren Zweckmäßigkeit beeinträchtigen durfte, ist das Umgekehrte bei den Kleinkunstwerken häufig der Fall, die durch ihre zu reiche Ausschmückung oftmals zu reinen Prunkstücken ohne Rücksicht auf ihre Verwendbarkeit werden.

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Zeitliche Scheidung in früh- hoch- und spätgotischen Stil. Die gotische Bauweise zeigt natürlich sowohl in zeitlicher, wie in örtlicher Hinsicht eine verschiedenartige Entwicklung. In ersterer unterscheidet man drei Stufen: den frühgotischen oder strengen, den hochgotischen, blühenden oder reichen, und den spätgotischen Stil. Eine scharfe Trennung dieser Zeitstufen ist freilich nicht möglich, da je nach den örtlichen Verhältnissen der Entwicklungsgang verschieden war; im Allgemeinen läßt sich nur sagen, daß die Blütezeit in das 14. Jahrhundert fällt und etwa nach dem Jahre 1430 der Niedergang eintrat. Die nähere Betrachtung dieser zeitlichen Verschiedenheiten wird daher zweckmäßiger mit jener der örtlichen Entwicklung zu verbinden sein, und es mag genügen, nur auf einige Hauptpunkte hinzuweisen.

Die frühgotische Bauweise verwendet einfachere Formen und legt das Hauptgewicht auf die strenge und folgerichtige Durchführung der Baufügung; im einzelnen wird sie namentlich gekennzeichnet dadurch, daß die Grundpfeiler weniger reich gegliedert, die Knäufe mit naturtreuem Blattwerk verziert sind; die Strebebogen erscheinen als einfache Mauerwölbungen, der Rundstab herrscht im Gewölbe wie beim Maßwerk vor.

Bei den hochgotischen Bauten tritt bereits das prächtige Zierwerk augenfälliger hervor, so daß für den ersten Anblick die Wirkung mehr durch dieses, als durch die Baufügung selbst bestimmt wird; letztere ist nun zur vollendeten Feinheit durchgebildet, man gestattet sich größere Freiheit in der Anwendung der Gesetze und geht bisweilen bis zu den äußersten Grenzen, um Leichtigkeit und Schlankheit zu erzielen, alle Massenhaftigkeit aufzulösen. Die Pfeiler erscheinen daher als Bündel von Halbsäulen und Stäben, die Strebebogen werden durchbrochen. Das Blattwerk ist willkürlicher geformt, der Gratstab (Rundstab mit einer schmalen Platte an der Vorderseite) tritt an Stelle des glatten Rundstabes, das Maßwerk wird in rein geometrischen Figuren gebildet.

Den spätgotischen Stil kennzeichnet die Ueberladung mit Zierwerk bei Willkürlichkeit in der Behandlung der Formen, der innere Zusammenhang des ersteren mit der Baufügung wird nicht mehr berücksichtigt, diese selbst kehrt wieder zum Massigen zurück. Anstatt des einfachen Spitzbogens werden der geschweifte oder der umgekehrte angewendet, in den Kreuzgewölben werden Rippen eingefügt, welche für die Baufügung überflüssig sind und nur den