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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Germanische Kunst

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Germanische Kunst.

Hintergrund. Bei den altchristlichen Kirchen erscheint der Turm als etwas Selbständiges, er steht daher in der Regel auch abgesondert; die romanische Bauweise brachte ihn bereits in engere Verbindung mit dem Hauptbau, wies ihm aber mehr die freilich bedeutsame Aufgabe zu, gewisse Stellen der Anlage hervorzuheben; in der Gotik wird er zu dem das Ganze beherrschenden Schlußgliede, das aus diesem Ganzen unmittelbar herauswächst.

Es ist begreiflich, daß die großartigen Eigentümlichkeiten dieser Bauten eine nachhaltige Wirkung äußerten und dieselben rasch Nachahmung fanden. Eine Reihe größerer und kleinerer Kirchen entstand nach ihrem Vorbilde zunächst im nördlichen Frankreich; dabei sehen wir das unablässige Bestreben, die noch hervortretenden Mängel zu beseitigen und den Stil fortzubilden. Die Galerien im Innern verschwinden, wodurch eine Ursache der Verdunkelung des Hauptschiffes und der Massigkeit der Pfeiler beseitigt wurde; damit hing auch die Anlage schmaler Gewölbefelder - anstatt quadratischer - zusammen und endlich führte das Streben nach größerer Helligkeit zur Erfindung des Maßwerks. Den Anstoß dazu gab, daß man zwei schmale Fenster nahe an einander rückte und in den Zwickel zwischen den beiden Spitzbogen eine Kreisöffnung anbrachte; dann faßte man durch einen umschließenden Bogen das Ganze zu einer Gruppe zusammen und endlich kam man dazu, anstatt zweier schmaler Fenster ein großes, zweigeteiltes anzulegen und den Teil im Spitzbogen mit Steingitterwerk auszufüllen. Aus dem zweiteiligen entwickelte sich sodann das vierteilige Fenster, das eine noch reichere Gestaltung des Maßwerks bedingte.

Die Anfänge dieser Neuerungen finden sich bereits in der Hauptkirche von Soissons (nach 1212) und in der Abteikirche von St. Yved; ausgebildet erscheinen sie dann bei einer Reihe von Bauten, welche als die vollkommensten Vertreter des strengen (oder früh-^[folgende Seite]

^[Abb.: Fig. 289. Hauptkirche zu Canterbury.]