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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Ébauche; Ebbe; Ebbe und Flut

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Ébauche - Ebbe und Flut.

Ébauche (franz., spr. ebohsch), der erste flüchtige Entwurf zu einer Abhandlung, die erste Anlage einer Zeichnung oder eines Gemäldes. Daher ebauchieren, s. v. w. in allgemeinen Umrissen entwerfen.

Ebbe (Ebbegebirge), kammartiger, nordöstlich sich ziehender, zwischen Lenne und Volme liegender Teil des Sauerländischen Gebirges im westfälischen Kreis Altena. Höchster Punkt ist die Nordhelle (633 m) mit weit reichender Aussicht.

Ebbe und Flut (Gezeiten, lat. Aestus maris, Fluxus et refluxus maris, franz. marées, engl. tides), diejenige Bewegung des Steigens und Fallens der Wasserfläche, welche von kosmischen Einflüssen und zwar von der Anziehung des Mondes und der Sonne herrührt. Die Anziehung des Gestirns wirkt in einem demselben zugewendeten Punkte der Erdoberfläche stärker, in einem diametral entgegengesetzten Punkte derselben geringer als im Erdmittelpunkt. In beiden Fällen aber ist die Differenz der Anziehungen auf Mittelpunkt und Oberfläche entgegen der irdischen Schwerkraft gerichtet, vermindert also dieselbe an diesen beiden Punkten. Unter der Annahme eines ganz von Wasser überdeckten Erdballes findet also dem Gestirn zu- und abgewendet je eine Erhebung der Wasserfläche statt, welche infolge der 24stündigen Rotation der Erde diese umkreist und an einem Punkt an jedem Tag zweimal eine Erhebung und zweimal eine Senkung des Wasserspiegels beobachten läßt. Die von der Sonne und vom Mond gemeinsam herrührende Gezeitenwelle tritt stärker oder schwächer auf, je nachdem beide Gestirne in gemeinsamer oder differierender Richtung wirksam sind. Ersteres ist der Fall zur Zeit des Voll- und Neumondes, und die dann erregten höchsten Fluten sind die Springfluten, letzteres zur Zeit des ersten und letzten Viertels, wo dann die niedrigsten sogen. Nippfluten auftreten. Dieser in jedem Monat sich zweimal vollziehende Wechsel in der Höhe (und, wie leicht ersichtlich, auch in der Zeit) des Flutwechsels wird als die halbmonatliche Ungleichheit bezeichnet. Wenn Sonne und Mond nicht im Äquator stehen, so befinden sich die diametral gegenüberliegenden Punkte größter Erhebung zu verschiedenen Seiten des Äquators. Die Erdrotation hat daher für einen und denselben Punkt eines Breitenparallels zur Folge, daß zwei Hochwasser von ungleicher Höhe im Lauf eines Tags beobachtet werden. Diese Erscheinung bezeichnet man als die tägliche Ungleichheit. Dieselbe kann bis zum Erlöschen des einen Hochwassers anwachsen, so daß dann Eintagsfluten entstehen. Die halbmonatliche Ungleichheit ist also abhängig von den Mondphasen, die tägliche Ungleichheit von der Deklination des Mondes und der Sonne. Das theoretische Verhältnis zwischen Mond- und Sonnenflut ergibt sich aus folgender Betrachtung:

Die Anziehungskraft eines Gestirns ist proportional seiner Masse M, dividiert durch das Quadrat der Entfernung R, also M/R². Ist dieser Ausdruck gültig für den Mittelpunkt der Erde, so gilt für die beiden dem Gestirn zu-, bez. abgewendeten Punkte der Erdoberfläche, wenn ρ den Erdradius bezeichnet: (M/(R±ρ))². Wenn man diesen Ausdruck auflöst und ρ² gegen R² vernachlässigt, erhält man (M/R²)±(2Mρ/R²). Es ist also die fluterzeugende Kraft eines Gestirns 2Mρ/R², und die eines zweiten von der Masse m und der Entfernung r ist 2mρ/r², also das Verhältnis beider zu einander Mr³/(R³m). Da die Sonnenmasse 324,479, die Mondmasse 1/81 Erdmassen beträgt, ferner die Sonne 387mal so weit von der Erde entfernt ist wie der Mond, so erhält man das Verhältnis der fluterregenden Kraft der Sonne zu der des Mondes gleich 324479·81/387³ = 1:2,2.

Der Theorie nach muß also das Verhältnis von Springflut zur Nippflut sein (1+2,2):(2,2-1) oder 3,2:1,2, und umgekehrt muß sich aus Beobachtung der Spring- und Nippflut das Verhältnis der Mond- zur Sonnenflut finden lassen (halbe Summe, dividiert durch halbe Differenz der beobachteten Spring- und Nippfluten). Diese Untersuchung ist ein Prüfstein geworden für die in der Natur vorkommenden Gezeitenerscheinungen in Bezug auf ihre durch örtliche Verhältnisse (namentlich durch Reibung auf flachem Wasser) bedingten Anomalien.

Man kann von vornherein nicht erwarten, daß die Gezeiten an den Küsten so zur Beobachtung gelangen, wie sie in einem ununterbrochenen Weltmeer gebildet werden würden. In der That findet sich in der Natur eine außerordentliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, deren Zusammenhang erst zum kleinsten Teil erforscht ist. Eintrittszeit und Höhe von E. u. F. sind aber für den Verkehr an den Küsten und in den Seehäfen von hervorragender Wichtigkeit; man hat sich daher von jeher bemüht, einfache Beziehungen aufzusuchen, mit Hilfe deren eine Vorausberechnung dieser beiden Elemente für die einzelnen Orte zu bewerkstelligen ist. Der Umstand, daß an den Küsten des Atlantischen Ozeans und besonders in Europa der Zusammenhang mit den Mondphasen weitaus in den Vordergrund tritt und ziemlich gleichartig verläuft, hat ein sehr einfaches Verfahren angenäherter Vorausberechnung auffinden lassen. Das Zeitintervall zwischen der Kulmination des Mondes am Tag von Neu- und Vollmond und dem darauf folgenden Hochwasser nennt man die Hafenzeit des Ortes, dieselbe ist also als identisch zu betrachten mit der Eintrittszeit des Hochwassers am Nachmittag jener beiden Tage. Um dann für einen andern Tag die Hochwasserzeit zu finden, fügt man der Kulminationszeit des Mondes die Hafenzeit hinzu und verbessert diese Summe für die halbmonatliche Ungleichheit der Zeit. Der Betrag dieser Korrektion ist aus einer kleinen Tabelle wie die folgende zu entnehmen, welche aus einer großen Zahl von Beobachtungen an verschiedenen Orten berechnet ist:

^[Liste]

Kulminationszeit d. Mondes 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Uhr

Halbmonatliche Ungleichheit -13 -28 -43 -55 -63 -63 -44 -15 +9 +16 +11 Min.

Wegen der Unsicherheit, welche dieser (in Wirklichkeit für jeden Ort verschiedenen) Korrektion anhaftet, hat man statt der gewöhnlichen Hafenzeit die verbesserte Hafenzeit vielfach in Gebrauch genommen, d. h. das mittlere Mondflutinterwall ^[richtig: Mondflutintervall] des ganzen Monats. Diese letztere Zahl ist namentlich als Vergleichsgröße geeignet, erfordert aber zu ihrer Feststellung eine längere Beobachtungsdauer.

Für die Vorausbestimmung der Höhe muß der Flutwechsel, d. h. der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser für Spring- und Nippflut, bekannt sein oder wenigstens der mittlere Flutwechsel; dieses Element ist indessen noch weniger zuverlässig als das der Zeit. Die für die Küsten aller Meere