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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Anthropologie

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Anthropologie.

dingt ist, so entsteht die von Kant so genannte "physiologische A."; wird dagegen derjenige betont, welcher (wie der Charakter [s. d.], die gesamte Entwickelung der Denk-, Gefühls- und Handlungsweise) durch den eignen Willen, der selbst schon der geistigen Seite der Menschen angehört, beeinflußt oder hervorgebracht ist, so entsteht die gleichfalls von Kant als "pragmatisch" bezeichnete A., deren völkerpsychologische Durchführung in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit deren allgemeine geistige und sittliche Kulturgeschichte ergibt.

3) Die historische A. behandelt die Herkunft des Menschen in der Schöpfung, das Alter des Menschengeschlechts, seine verwandtschaftliche Stellung zu den verschiedenen Tieren, namentlich zu den ihm nächststehenden (sogen. menschenähnlichen oder anthropoiden) Affen, weiterhin die Entstehung der verschiedenen Rassen und Völkerstämme, ihre Heimat, Wanderungen, Mischungen und Spaltungen. Als Hilfswissenschaften gelten einerseits die Paläontologie und Archäologie (s. d.), insofern sie die Dokumente vergangener Erd- und Kulturperioden für die Urgeschichte des Geschlechts herbeischaffen, anderseits die vergleichende Anatomie und Embryologie, indem diese die im Bau und der Entwickelung des Menschen niedergelegten Anknüpfungspunkte an frühere und niedere Erscheinungsformen ans Tageslicht fördern (sogen. Anthropogenie nach Häckel, d. h. Lehre von der Entstehung des Menschen). Infolge der Lückenhaftigkeit der Dokumente ist dieses Gebiet noch vielfach der Tummelplatz von Hypothesen und Vermutungen, namentlich soweit es sich um die Anwendung der darwinistischen Naturanschauung auf die Entstehung des Menschen handelt (Häckels Affentheorie). Von großer Bedeutung für die Frage des frühsten Nachweises des Menschengeschlechts sind einerseits die sogen. Diluvialfunde, anderseits die Knochenhöhlen. Erstere bestehen in rohen Steinwaffen, welche man in quaternären Schichten zusammen mit den Knochen zweifellos fossiler Tiere fand (Mammut [Elephas primigenius], wollhaariges Nashorn [Rhinoceros tichorrhinus], Höhlenbär [Ursus spelaeus], Höhlenhyäne [Hyaena spelaea] etc.). Derartige Funde machte zuerst Boucher de Perthes (1847) in dem Diluvium des Sommethals bei Abbeville. Auch der immerhin zweifelhafte Fund des menschlichen Unterkiefers von Moulin-Quignon durch denselben Forscher (1863) gehört hierher. Von den Grotten- und Höhlenfunden steht der durch Lartet zu Aurignac gemachte (1861) obenan. Die hier gefundenen fossilen Tierknochen zeigten die Spuren der Feuereinwirkung, andre besaßen Einkerbungen, scheinbar von Menschenhand herrührend. Namentlich Frankreich, England, Belgien, Italien sind reich an solchen Knochenhöhlen. Auch die Ausgrabungen in den Steinbrüchen von Paris durch Martin (1867-73) sowie die im Lessethal durch Dupont (1864) gehören hierher.

Aus diesen Funden geht mit Bestimmtheit hervor, daß der Mensch in den betreffenden Gegenden Europas bereits in der quaternären Epoche als ein Zeitgenosse teils jetzt ausgestorbener, teils nur noch in nordischen Breitengraden lebender Tiere (Renntier, Moschusochs) auftrat. Ob er auch in der Tertiärzeit existierte, ist nach den bisherigen Funden noch zweifelhaft. Als einen Beweis dafür sieht man die von Capellini (1876) im pliocänen Thon des Monte Aperto bei Siena aufgefundenen Knochen von Balaenotus (Cetacea) mit anscheinend von Menschenhand herrührenden (?) Einschnitten sowie scheinbar bearbeitete Kiesel an, welche Abbé Bourgeois in den miocänen Schichten von Thénay auffand. Nirgends aber fanden sich bisher sichere Anzeichen für die Annahme einer ursprünglich affenartigen (pithekoiden) Körperbildung des ältesten Menschen; die weite Lücke zwischen Mensch und Affe ist, was fossile Funde anbelangt, noch unausgefüllt (s. unten). Ja, es liegt kein Grund vor, anzunehmen, daß der quaternäre Mensch körperlich und geistig niedriger stand als viele jetzt lebende wilde Rassen. Was den Kulturgrad der alten Höhlenbewohner anbelangt, so lebten dieselben, wie die Funde ergeben, von Jagd und Fischfang, wobei sie sich steinerner und knöcherner Waffen und Geräte bedienten; sie kleideten sich in Tierfelle, die sie mit Sehnen und Darmsaiten nähten, und kannten die Wohlthat des Feuers. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß Kannibalismus bestand (Marion, Fund bei St.-Marc unweit Aix en Provence; Capellini, Insel Palmaria). Von großem Interesse als Beweise eines schon damals sich entwickelnden Kunstsinnes sind die fossilen bildlichen Darstellungen, auf Renntier-, Mammut- und Schieferstückchen eingeritzt, welche man an verschiedenen Orten fand (Höhlen von Périgord, von Thayngen in der Schweiz). Dieselben stellen Wisentköpfe, Renntiere, Pferde etc. dar; besonders merkwürdig ist die Abbildung eines Mammuts auf dem Stück eines Stoßzahns dieses Tiers (Grotte von Madelaine in der Dordogne). Sehr auffallend sind endlich die in den letzten Jahren aufgefundenen trepanierten Menschenschädel (Prunières, Höhle von Lozère). Die ausgeschnittenen Knochenscheiben sind zum Durchziehen einer Aufhängeschnur durchbohrt. Die Operation wurde teils an Lebenden, teils an Toten vorgenommen; ihr Zweck ist fraglich, vielleicht liegt ein religiöses Motiv zu Grunde (vgl. Broca, Revue d'Anthropologie, Bd. 2, 1873; Bd. 6, 1877).

Unter den menschlichen Knochenresten, die den Höhlen entstammen, haben einige eine gewisse Berühmtheit erlangt, indem man in ihnen die Vertreter jener ältesten Rassen sah. So der Schädel vom Neanderthal, von Fuhlrott 1857 bei Düsseldorf gefunden und von Schaaffhausen genauer untersucht, dessen typische Bedeutung indes durch den von Virchow geführten Nachweis pathologischer Bildung beeinträchtigt wird; ferner der Schädel von Engis, von Schmerling 1833 bei Lüttich entdeckt, dessen paläolithische Natur indes bezweifelt wird (Boyd Dawkins). Beide Schädel gehören, ebenso wie die Schädel von Cro-Magnon (im Vézèrethal bei Des Eyzies 1858 gefunden), einer dolichokephalen Rasse an. Dagegen brachykephal sind der sogen. Schädel aus den Hünengräbern von Borreby, die Mehrzahl derer des Trou du Frontal in Belgien, ein Teil der Höhlenschädel von Sclaigneaux etc. Auf Grund dieser Funde hat de Quatrefages verschiedene prähistorische Menschenrassen aufgestellt, die er als Kannstatt-, Cro-Magnon- und Furfoozrasse bezeichnet.

Weitere wichtige Funde in anthropologischer Hinsicht liefern die sogen. Torfmoore, Küchenabfälle und die Pfahlbauten. Die Torfmoore, namentlich in Dänemark stark vertreten, lassen erkennen, daß daselbst der Vegetationscharakter dreimal gewechselt hat: auf Nadelhölzer folgten Eichen und schließlich Buchen; bereits zur Zeit ersterer wohnten, wie die zwischen den Stämmen aufgefundenen Steinwaffen zeigen, Menschen in jenen Gegenden, zu einer Zeit, die man mit Hilfe der Dicke jener Torfe auf 10-12,000 Jahre zurück berechnet. Unter Küchenabfällen (dän. Kjökkenmöddings) versteht man vorgeschichtliche Muschelhaufen am Strande des