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Arbeiterfrage.
kommen, die Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse, das Familienleben, an die Sicherung und Versicherung gegen Unglücksfälle, an die moralische, religiöse, soziale und politische Existenz dieser Klassen. Die A. ist daher nicht nur eine Lohn- oder Einkommensfrage, sondern eine Frage viel allgemeinerer, viel komplizierterer Art, und sie ist auch nicht bloß eine ökonomische, sondern zugleich eine sittlich-religiöse und eine politische Frage. Die Besserung von Arbeiterzuständen ist auch schon vor dem 19. Jahrh. Gegenstand sozialer Probleme gewesen. Aber das, was man heute unter der A. begreift, wenn von ihr schlechthin die Rede ist, ist doch erst eine Erscheinung, ein Problem des 19. Jahrh. Für die richtige Würdigung dieser A. ist wesentlich, daß sie ihren besondern Entstehungsgrund und Inhalt hat einerseits in Übelständen, die erst im letzten Jahrhundert durch die gegen früher völlig veränderten rechtlichen und technischen Verhältnisse der Volkswirtschaft hervorgerufen wurden, anderseits darin, daß die heutigen Kulturstaaten und ihre Gesellschaft sich viel höhere Aufgaben für die Verbesserung des Loses der untern Volksklassen stellen, als es früher geschah, daß man diese Klassen auf eine viel höhere Stufe der Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung erheben will, als sie früher erstrebt wurde. Das Auftreten der A. in unserm Jahrhundert ist daher nicht ein Zeichen des Rückschritts, nicht ein Beweis dafür, daß die Lage der Lohnarbeiter gegen früher eine schlechtere geworden, sondern im Gegenteil ein Zeichen des Fortschritts, ein Beweis dafür, daß die Völker, bei denen die A. eine brennende Tagesfrage ist, bewußt eine höhere Kulturstufe erreichen wollen, daß ihr Rechtsbewußtsein, ihre humanen und sittlichen Anschauungen, ihre sittlichen Bestrebungen höhere geworden sind.
Die A. gehört zu den schwierigsten Problemen, die je Völker in der Geschichte sich gestellt haben. Es kann daher nicht wundernehmen, daß die Ansichten über das Maß des Berechtigten und Erreichbaren und über den Weg zu diesem Ziel weit auseinander gingen und gehen. Und in der That zahllos sind die Vorschläge zur Lösung der A., und die Litteratur, in der die widersprechendsten Ansichten entwickelt sind, füllt eine große Bibliothek. Im allgemeinen aber lassen sich in diesem Chaos drei Hauptrichtungen als besonders charakteristisch und als allein bedeutsam unterscheiden: zwei sich extrem gegenüberstehende, falsche und eine dritte, richtige, die allein mögliche Lösung anbahnende, in der Mitte zwischen beiden stehend. Das hauptsächlich unterscheidende Kriterium für die verschiedenen Richtungen ist weniger die Ansicht über das berechtigte und erreichbare Ziel als die Stellung des Staats zur Lösung der Frage, das Verhalten der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung zur Hebung der Mißstände. Diese Richtungen sind die individualistische (vulgo Manchesterrichtung), die sozialistische und die sozialreformatorische.
Die individualistische Richtung.
Die Vertreter dieser Richtung sind eifrige Verfechter der absoluten wirtschaftlichen Freiheit der Einzelnen, welche für die A. nur die logischen Konsequenzen aus den ökonomischen Grundanschauungen der Physiokraten und des Smithianismus zogen (s. Physiokratisches System, Manchesterpartei). Sie gehen von der Grundanschauung aus, daß der beste Zustand der Volkswirtschaft naturgesetzlich aus der vollen Freiheit des Einzelnen sich entwickele. Der Staat könne durch eine positive Mitwirkung an den Aufgaben der Volkswirtschaft nur schädlich wirken und jene naturgesetzliche Entwickelung hindern. Sie weisen daher dem Staat in der Volkswirtschaft nur die Aufgabe zu, die Freiheit der Person und das Eigentum zu schützen und dafür zu sorgen, daß der Einzelne in seiner freien wirtschaftlichen Bewegung, in der Verfolgung seiner wirtschaftlichen Interessen nicht gehemmt werde. Deshalb verwerfen sie auch für die A. jede weitere Staatshilfe, z. B. jede, auch die geringste Fabrikgesetzgebung, durch welche ein Fabrikant irgendwie in seiner Freiheit beschränkt würde, also jede gesetzliche Regelung der Arbeit der Kinder, der jugendlichen und weiblichen Arbeiter, jede Zwangsvorschrift im Interesse der Gesundheit der Arbeiter, bezüglich der Arbeiterversicherung etc. Im Grund erkennen sie gar keine A. als ein berechtigtes, selbständiges ökonomisches Problem an. Sie führen nämlich alle Übelstände in den Arbeiterkreisen in der Hauptsache zurück entweder auf die Schuld der Arbeiter selbst, oder auf die frühere falsche Politik der Unfreiheit, oder auf die noch nicht genügend durchgeführte, resp. in ihren Wirkungen noch nicht voll und ganz zur Geltung gekommene wirtschaftliche Freiheit, oder auch auf die mit ihren Forderungen im Widerspruch stehende Militär-, Steuer-, Schutzzoll- und Schulpolitik der modernen Staaten. Mißstände, die sich nicht auf diese Ursachen zurückführen und durch Beseitigung derselben heben ließen, könnten nach ihrer Lehre nur noch in geringem Lohn ihren Grund haben. Wo dieser bestehe, sei er aber nicht die Folge etwa einer mangelhaften Verteilung des Volkseinkommens oder unberechtigter Handlungen der Arbeitgeber, der deshalb zu seiner Erhöhung eine neue besondere restriktive Wirtschaftspolitik erheische, sondern sei er lediglich die Folge von Kapitalmangel der Unternehmer (Arbeitgeber) und daher durch eine Erhöhung des Kapitals derselben zu beseitigen. Sie stützen diese Ansicht auf die sogen. Lohnfondstheorie (s. Arbeitslohn), nach welcher das Kapital, aus dem der Lohn definitiv gezahlt werde, das Unternehmerkapital sei und daher (nach dem allgemeinen Preisgesetz), wenn dieses steige, die Nachfrage nach Arbeitern und folglich die Löhne der Arbeiter steigen würden. Diese Seite der A. sei also lediglich die Frage, wie man das Kapital der Unternehmer zu vermehren habe, mithin eine Kapitalfrage. Die Lösung dieser Frage erfordere aber keine besondere Politik. Dieselbe ergebe sich von selbst aus der naturgesetzlichen Entwickelung der Volkswirtschaft bei freier Konkurrenz. Denn bei dieser finde eine stete Kapitalvermehrung statt.
Diese Richtung des laissez faire und laissez passer wurde in England durch die sogen. Manchesterpartei vertreten, welche in der A. alle Bestrebungen, die auf eine Fabrikgesetzgebung und auf weitere staatliche Fürsorge für das Wohl der Arbeiter gerichtet waren, auf das entschiedenste bekämpfte. Die Anschauungen dieser Richtung fanden in Deutschland seit dem Ende der 50er Jahre Anhänger in größerer Zahl, welche sich unter der Führung von Prince-Smith, Julius Faucher, Otto Michaelis, H. B. Oppenheim, K. Braun u. a. als "deutsche Freihandelspartei" organisierten und in den 60er Jahren auf die Wirtschaftspolitik einen entscheidenden Einfluß ausübten. Diese Partei hat ihre frühern radikal-individualistischen Anschauungen aber sehr modifiziert, und das eigentliche krasse Manchestertum hat heute in Deutschland nur noch vereinzelte Anhänger.
Die sozialistische Richtung.
Wir verstehen hier darunter nach dem wissenschaftlich üblichsten Sprachgebrauch von Sozialismus und