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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Armenwesen

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Armenwesen (die Armenpflege im Mittelalter).

im Krieg Verstümmelten, später alle, die weniger als 3 Minen (ungefähr gleich 240 Mark) hatten und arbeitsunfähig waren, erhielten Anspruch auf Staatsunterstützung, welche nach vorgängiger Untersuchung durch die Fünfhundert von der Volksversammlung im höchsten Betrag von 2 Obolen (täglich 20 Pfennig) zuerkannt wurde. Außerdem half man sich auch durch genossenschaftliche Verbände (eranoi), welche auf Gegenseitigkeit gegründet waren. Die daraus erhaltenen Unterstützungen mußten nach wiedererlangten bessern Vermögensumständen rückvergütet werden. In Rom findet sich ebenfalls lange Zeit weder eine staatliche noch eine religiöse Vorschrift, welche die Unterstützung der Armen zur Pflicht gemacht hätte. Nicht einmal die Bestimmung, daß der Vater den Sohn und umgekehrt zu ernähren habe, kennt das ältere römische Recht. Allerdings flossen auch schon früher reichliche Spenden an die Armen, aber nicht unter dem Titel des Almosens, sondern als Mittel der Bestechung bei den Wahlen und Abstimmungen. Die wachsende Volksmenge führte zwar später auch zu staatlichen Einrichtungen, welche die Austeilung von Unterstützungen an die Armen zum Gegenstand hatten. Immer aber blieb dabei diesen Spenden wie ähnlichen, die früher in Athen vorkamen, der Charakter des allgemeinen Bürgerrechts, von dem die Reichen keinen Gebrauch machten. So erhielt jeder Bürger monatlich nach der lex Terentia 5 modii Getreide unter dem Marktpreis, später unter Clodius sogar unentgeltlich. Auch die Licinischen und Gracchischen Gesetzvorschläge (leges agrariae), welche die Verteilung der Staatsländereien unter die armen Bürger zum Gegenstand hatten, gehören hierher. Erst Cäsar hob den Charakter der Armenpflege bei den Getreidespenden mehr hervor, indem er die Zahl der Empfangsberechtigten auf 150,000 festsetzte und dabei bestimmte, daß nur die Armen diese Spenden unentgeltlich empfangen sollten. Eine Bestimmung darüber, wer als arm zu betrachten sei, wurde indes nie getroffen, auch dann nicht, als unter den ersten Kaisern nicht mehr Getreide, sondern Brot in der Art verteilt wurde, daß jede Tribus eine Anzahl Anweisungen (tesserae) erhielt, die sie unter ihre Angehörigen zu verteilen hatte. Diese tesserae wurden in den Tribus wieder nicht nach Bedürfnis verteilt, sondern man konnte sie kaufen, wieder veräußern, unter Aurelian sogar vererben. Erst unter Nero und Hadrian kamen neben diesen Verabreichungen aus dem Staatsvermögen noch wirkliche Wohlthätigkeitsanstalten insbesondere für Kinder vor, Alimentationen genannt, die sich dann auch auf die Provinzen erstreckten. Sie wurden aus dem Privatvermögen der Kaiser gestiftet. Auch in Rom findet sich übrigens neben dieser Fürsorge des Staates für die Armen unter den Zünften eine Privatwohlthätigkeit für die Kranken, Witwen und Waisen der Zunftmitglieder.

Mit dem Christentum erhielt die Wohlthätigkeit wieder einen religiösen Charakter. Dieselbe wurde dabei lange Zeit, ähnlich der Auffassung des Islam, als Gott wohlgefälliges Werk, mithin als Selbstzweck angesehen, so daß es wenig darauf ankam, wem und wie man gab, sondern nur darauf, was man gab. Erregte doch selbst das Betteln so wenig Anstoß, daß es durch die Bettelorden eine Art religiöser Weihe erhalten konnte. Die Verwaltung der größern für die Armen bestimmten Stiftungen wurde, vielfach veranlaßt durch die Geistlichkeit, der Kirche überwiesen und so von letzterer mit der Zeit als ihr Recht in Anspruch genommen. Die Kirche selbst ging dabei mit gutem Beispiel voran, indem sie aus ihrem reichen Einkommen oft den vierten und dritten Teil für die Armen bestimmte. Diese kirchlichen Gaben reichten sehr bald nicht mehr hin, da sie bei mangelnder Organisation der Armenpflege und bei unrichtiger Verteilung die Armut förderten, statt sie zu mindern. So kam die Kirche dahin, ihre politische Macht zu gebrauchen und zur Armenunterstützung zu zwingen, und als die natürliche Grundlage hierbei erschien ihr die christliche Gemeinde. Der Beschluß eines Konzils zu Tours (567) führt geradezu die Verpflichtung der Gemeinde zur Erhaltung ihrer Armen ein. Aber auch die weltliche Gewalt befaßte sich schon frühzeitig mit dem A., wie denn ein Kapitulare Karls d. Gr. von 806 gleichfalls die Verpflichtung der Gemeinde zur Erhaltung ihrer Armen enthält. Daneben war die in den Gefolgschaften vielfach vertragsmäßig vom Grundherrn (Senior) übernommene Verpflichtung, für den Homo im Notfall Kleidung, Nahrung etc. zu beschaffen, von großer Wichtigkeit, da dieselbe oft zur gesetzlichen wurde. Nicht weniger erheblich ward die genossenschaftliche Armenunterstützung, die von Gilden und Zünften im spätern Mittelalter ausging. Dieselbe erstreckte sich zwar nur auf Gildeangehörige, hatte jedoch dadurch eine große Bedeutung, daß das Gildenwesen das ganze bürgerliche Leben des Mittelalters umfaßte. Einen Schritt weiter ging man in England. In Deutschland fand sich im Mittelalter keine Bestimmung darüber, wer überhaupt Anspruch auf Unterstützung habe. In England bestimmte wenigstens König Egbert, daß nur derjenige Unterstützung erhalten solle, welcher nicht im stande sei, mit seiner Hände Arbeit sich zu ernähren. Dagegen weist das angelsächsische Recht keine Spur davon auf, daß die Gemeinde zur Unterhaltung ihrer Armen verpflichtet sei. Nur in den skandinavischen Staaten, in Schweden, Norwegen, vor allem aber in Island (die Graugans), hat sich schon im Mittelalter ein vollständig ausgebildetes System der Armenpflege entwickelt. Wer vier Wochen ohne festen Sitz im Land umherzieht, wer einen solchen Bettler unterstützt, ist friedlos. Für die wahrhaft Armen hat zunächst der Verwandte je nach der Erbberechtigung zu sorgen. Jeder hat außerdem einen Armenzehnten zu entrichten für diejenigen Armen, welche auf diesem Weg keine Unterstützung erhalten. Die Versammlung der Freien entscheidet über die Dürftigkeit.

Die Zahl der Armen und das die öffentliche Ordnung gefährdende Bettelwesen nahmen in den nichtskandinavischen Reichen Europas mit der Zeit dergestalt überhand, daß der Staat gezwungen wurde, dem A. seine Aufmerksamkeit zu widmen. Anfangs geschah dies nur durch Bettelverordnungen und die allgemeine Bestimmung, wer und von wem die Unterstützung zu beanspruchen sei. Mit der Zeit entwickelte sich jedoch ein vollständigeres System der Armenpflege und zwar zunächst in England. Die vielen Kriege, von welchen dieses Land heimgesucht wurde, und welche häufige Entlassungen von der Arbeit entwöhnten Söldnern zur Folge hatten, sowie die allmähliche Auflösung des Lehnswesens und der Leibeigenschaft förderten die Entstehung einer auf Bettel und Raub angewiesenen zahlreichen Menschenklasse, während es gleichzeitig an Arbeitern zur Bebauung des Landes fehlte. Infolgedessen setzte sich die englische Gesetzgebung eine doppelte Aufgabe: einmal die direkte Beseitigung der Landstreicherei durch Strafgesetze, sodann die Sorge, ländliche Arbeiter für den Ackerbau zu gewinnen. Für alle Arten