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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Armenwesen

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Armenwesen (die Armenpflege im Altertum).

macht werden dürfen. Die Rücksicht auf das Gesamtinteresse gebietet, daß bei Beantwortung der Grundfragen des Armenwesens einfach nur mit der Thatsache gerechnet wird, daß überhaupt Arme vorhanden sind. Darum ist auch nicht einmal Staatsangehörigkeit als Vorbedingung der Unterstützung Hilfloser zu fordern, obschon es politisch geboten ist, durch internationale, auf Gegenseitigkeit beruhende Verträge für die billige Durchführung dieses Grundsatzes zu sorgen. Die deutsche Armengesetzgebung gewährt auch dem in Not geratenen Ausländer Unterstützung. Bei dieser Sorge hat sich, wenn sie eine befriedigende sein soll, die Thätigkeit von Privaten, freien Vereinen, Gemeinden und des Staates gegenseitig zu unterstützen und zu ergänzen. Um dies zu ermöglichen, sind besondere Armenordnungen nicht zu umgehen, durch welche die Bedingungen und Formen der Armenpflege bestimmt und geregelt werden. Die Aufgaben der Gesellschaft sind teils präventiver, teils repressiver Natur. Die erstern, welche das Entstehen der Armut verhüten sollen, umfassen einen großen Teil der gesamten Gesetzgebung und Verwaltung, insbesondere der Wirtschaftspolitik (Hebung des allgemeinen Wohlstandes, der Bildung, Hebung der Sittlichkeit, Gründung von Kassen etc.). Sie fallen nur insofern in den Bereich des Armenwesens, als sie in besondern Fällen mit den Maßregeln repressiver Natur Hand in Hand zu gehen haben. Die letztern befassen sich mit der Thatsache der Armut und der Beseitigung ihrer schädlichen Wirkungen. Sind dieselben mit Zwang verbunden, so bezeichnet man sie als Maßregeln der Armenpolizei (Zwang zur Arbeit, Maßregeln gegen Bettler, Vaganten, Unterbringung sittlich verwahrloster Kinder in Rettungshäuser, Einschreiten gegen mißbräuchliche Versorgungsansprüche etc.). Dieselbe ist mit dem übrigen Gebiet des Armenwesens, der Armenpflege, so eng verwachsen, daß sie von demselben weder theoretisch noch praktisch zu sondern ist.

Nächst dem polizeilichen Zwang hat auch das Strafrecht in Wirksamkeit zu kommen, insbesondere gegen diejenigen, welche infolge von Spiel, Trunk, Müßiggang unfähig wurden, ihre Angehörigen zu ernähren (so in Deutschland nach dem Strafgesetzbuch, § 361, Nr. 5, während in England eine Bestrafung unter anderm auch bei Entlaufen aus dem Arbeitshaus eintritt). Die Maßregeln und Anstalten der Armenpflege, deren Aufgabe es ist, die Armen in angemessener Weise zu versorgen und die hierfür erforderlichen Mittel, sofern sie nicht aus allgemeinen Fonds fließen, aufzubringen und die Armenlasten zweckentsprechend zu verteilen, sind verschieden, je nachdem es sich um erwerbsfähige oder um ganz oder nur teilweise erwerbsunfähige Personen handelt. Während man ganz oder nur teilweise erwerbsfähigen Armen in Arbeitshäusern oder außerhalb derselben Beschäftigung verschaffen kann, werden erwerbsunfähige schon im Interesse einer geordneten Verpflegung, welche meist besondere technische Einrichtung erfordert, in eigne Anstalten verbracht, so Waisen, sofern sie nicht, was bei kleiner Zahl auch zweckmäßig, gegen Kostgeld in Familien gegeben werden, in Waisenhäuser, alte und kranke Personen in Armenhäuser, Versorgungsanstalten, Hospitäler, Taubstummen-, Irrenhäuser etc. Anstalten dieser Art sind je nach dem Umfang, den sie einnehmen müssen, und nach der Zahl der zu versorgenden Personen bald als Gemeinde- oder Bezirks-, bald als Provinzial- oder Staatsanstalten zu errichten und zu unterhalten. Bei vorübergehender Erwerbsunfähigkeit, wie Krankheit des Familienvaters, oder bei teilweiser Erwerbsunfähigkeit (Witwen) wird in der Regel die Unterstützung, welche im letztern Fall eine ergänzende sein muß, am besten außerhalb solcher Anstalten und zwar meist durch Gewährung von Naturalien, wie Arznei, Kleidung, Bezahlung der Miete etc., erfolgen. Im übrigen ist es schwer, das Wesen und die Aufgabe der Armengesetzgebung in eine bestimmte, allgemein gültige Formel zu fassen. Die Bedürfnisse eines modernen Industriestaats mit dichter Bevölkerung sind wesentlich verschieden von denjenigen eines in seiner Entwickelung weniger vorgeschrittenen, nur Ackerbau treibenden Staates. Die Besonderheit der gesamten Kulturentwickelung, vorzüglich der allgemeinen religiösen und Rechtsanschauungen, hat überall der praktischen Armenpflege ihr besonderes Gepräge verliehen. So ist denn auch der Zustand der gegenwärtigen europäischen Armengesetzgebungen ein sehr verschiedener, wie sich aus folgendem ergibt.

Geschichte der Armenpflege.

Arme hat es gegeben, seitdem bürgerliche Gesellschaften mit Privateigentum bestehen. Das A. hat daher schon in früher Zeit die Gesetzgebung beschäftigt. Eine eigentümliche Stellung nimmt hierbei die mosaische Gesetzgebung ein, wie sie sich konsequent im Talmud entwickelt findet. Dieselbe verdient schon deswegen Beachtung, weil die christliche Kirche in der Folgezeit vielfach daran anknüpfte. Getreu dem theokratischen Charakter des jüdischen Staates, in dem alles Eigentum zunächst Gottes Eigentum ist, hat auch der Arme von dem Gesetz des Herrn einen bestimmten Anteil an Grund und Boden wie an beweglicher Habe zugewiesen erhalten. Dem Armen gehörte ein Teil des Ackerlandes, die Ackerecke (peah), welche vom Eigentümer nicht abgeerntet werden durfte, dann die Nachlese, d. h. alles, was nach der Ernte auf dem Acker blieb, ferner der Armenzehnte, nämlich jedes dritte Jahr der zehnte Teil der ganzen Ernte; endlich war in jedem siebenten Jahr (Jubeljahr) die ganze Ernte gemeinschaftlich. Das Gesetz bestimmte auch genau die Höhe des Almosens, das den herumziehenden Armen gereicht werden mußte. Der Arme hatte also nach mosaischem Recht einen Anspruch auf Unterstützung. Eine logische Folge dieser Zwangsarmenpflege war es, daß das mosaische Gesetz auch genaue Bestimmungen darüber traf, wer als arm und wer als reich anzusehen sei. Ähnliche Anschauungen beherrschen noch heute die orientalische Welt. Auch beim Islam ist bürgerliches und kirchliches Regiment vereinigt. Das Almosen ist jedoch nach dem Koran nicht der von Gott dem Armen zugewiesene Anteil an den Gütern des Landes, sondern es ist die Sühne der Sünde gegen Gott und wird bald geradezu vorgeschrieben, bald nur vom Gesetz empfohlen. Das erzwungene Almosen ist der Zehnte, der teils zur Unterstützung des Islam, teils für die Armen bestimmt ist und von jedem erhoben wird, welcher bei gesundem Verstand, volljährig, frei und wohlhabend ist. Das Betteln ist nur denjenigen gestattet, welche nicht für einen Tag Existenzmittel haben.

In entschiedenem Gegensatz zum mosaischen und muselmanischen Recht steht die Gesetzgebung über das A. in den Staaten des klassischen Altertums. In Griechenland tritt in älterer Zeit bei den damaligen sozialen und Staatseinrichtungen (Sklaverei, Verteilung von Staatsländereien in unterworfenen Ländern an dürftige Bürger) eine eigentliche Armenpflege nicht hervor. Eine solche kam erst mit dem unglücklichen Ausgang des Peloponnesischen Kriegs zum Vorschein. Die adynatoi, d. h. anfangs nur die