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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Armensteuer; Armentières; Armenverbände; Armenwesen

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Armensteuer - Armenwesen.

müßte diese allgemeine Volksschule allen Kindern unentgeltlichen Unterricht gewähren, wie es der bis zum Erscheinen des Schulgesetzes einstweilen noch nicht verpflichtende Art. 25 der preußischen Verfassung verlangt. Dadurch wird den A. jeder Boden entzogen. Aber auch, wo noch mäßiges Schulgeld erhoben wird, müssen die allgemeinen Volksschulen zugänglich bleiben für diejenigen, welche außer stande sind, dies Schulgeld zu zahlen. Höchstens kann hier, wie z. B. im skandinavischen Norden geschieht, den Eltern freigestellt werden, ob sie ihre Kinder der "Freischule" (Almueskola) oder der "Bezahlungsschule" zuführen wollen. Geschichtliches Interesse haben vor allen die A. der Schweiz, welche unter Pestalozzis und Fellenbergs (s. d.) Einfluß entstanden, namentlich die sogen. Wehrlischulen (s. Wehrli). Auch besondere Seminare für Armenschullehrer entstanden in der Umgebung dieser Männer, unter denen dasjenige zu Hofwyl und seit 1814 dasjenige zu Beuggen im südlichen Baden, von Ch. H. Zeller (s. d.) geleitet, den weitesten Ruf erwarben. Mit den Rettungshäusern und ähnlichen Anstalten haben die A. wohl eine gewisse Analogie; es liegt jedoch in der Billigkeit wie im öffentlichen Interesse, zwischen diesen und jenen streng zu unterscheiden.

Armensteuer (Armentaxe), Abgabe, welche für Zwecke der Armenpflege erhoben wird. Die Grundlage der bekannten englischen A. (poor rate) ist das Gesetz 43 Elis., Kap. 2, § 1, wonach für jedes Kirchspiel die betreffenden Behörden "durch Abschätzung eines jeden Einwohners, Pfarrers und von jedem nutzenden Inhaber von Grundstücken, Häusern, Zehnten, Kohlenbergwerken, verkäuflichen Waldungen die nach ihrem Ermessen nötigen Summen aufbringen sollen zur arbeitsamen Beschäftigung der Armen, zur Geldunterstützung der Arbeitsunfähigen und zur Unterbringung armer Kinder als Lehrlinge". Bemessen wird die Steuer nach dem jährlichen Miet- und Pachtwert der bezeichneten Kategorien des Realbesitzes. Die A. als Zwecksteuer hat den Nachteil, daß sie bei den Armen den Gedanken eines Rechts auf Unterstützung weckt, bei dem Steuerzahler den Trieb zur privaten Wohlthätigkeit hemmt und bei schwankender Höhe eine geordnete Deckung des öffentlichen Bedarfs erschwert. Besser werden deshalb die Armenlasten durch die allgemeinen öffentlichen Budgets von Staat, Gemeinde etc. bestritten.

Armentières (spr. -mangtjähr), Stadt im franz. Departement Nord, Arrondissement Lille, rechts an der Lys und der Nordbahn, hat bedeutende Baumwoll- und Leinenfabrikation, zahlreiche Bleichen, Tüll-, Spitzen-, Zuckerfabriken, Handel mit den eignen Fabrikaten und Getreide und (1881) 23,639 Einw.

Armenverbände, Gemeindeverbände, welchen die öffentliche Unterstützung hilfsbedürftiger Personen obliegt. Das norddeutsche Bundesgesetz vom 6. Juni 1870 über den Unterstützungswohnsitz, welches auch auf Baden, Württemberg und Südhessen, nicht aber auf Bayern und Elsaß-Lothringen ausgedehnt ist, unterscheidet zwischen Orts- und Landarmenverbänden. Die Ortsarmenverbände bestehen in der Regel aus einzelnen Gemeinden. Der Ortsarmenverband, in welchem sich ein Hilfsbedürftiger bei dem Eintritt der Hilfsbedürftigkeit befindet, muß ihn vorläufig und vorbehaltlich des Anspruchs auf Erstattung der Kosten und auf Übernahme des Hilfsbedürftigen gegen den hierzu verpflichteten Armenverband unterstützen. Zur Erstattung und Übernahme verpflichtet ist aber der Ortsarmenverband, in welchem der Unterstützte seinen Unterstützungswohnsitz (s. d.) hat. Wenn jedoch Personen, welche im Gesindedienst stehen, Gesellen, Gewerbsgehilfen oder Lehrlinge an dem Ort ihres Dienstverhältnisses erkranken, so hat der Ortsarmenverband des Dienstorts die Verpflichtung, den Erkrankten die erforderliche Kur und Verpflegung zu gewähren. Ein Anspruch auf Erstattung der Kosten erwächst in solchen Fällen nur dann, wenn die Krankenpflege länger als sechs Wochen fortgesetzt wurde, und nur für den über diese Frist hinausgehenden Zeitraum. Hat der Unterstützte keinen Unterstützungswohnsitz, so muß der Landarmenverband eintreten, in dessen Bezirk er sich bei dem Eintritt der Hilfsbedürftigkeit befand, oder, falls er im hilfsbedürftigen Zustand aus einer Straf-, Kranken-, Bewahr- oder Heilanstalt entlassen wurde, derjenige Landarmenverband, aus welchem seine Einlieferung in die Anstalt erfolgt ist. Meist umfassen die Landarmenverbände mehrere Ortsarmenverbände (in Preußen je nach dem Bedürfnis einer zweckmäßig verteilten Armenpflege sowohl Provinzen als auch Regierungsbezirke und Kreise, in andern deutschen Ländern bald das ganze Staatsgebiet, bald einzelne Kreise und Ämter); doch bilden auch einzelne große Städte, wie Berlin, Breslau etc., für sich allein Landarmenverbände.

Armenwesen. Arm im Sinn der Gesetzgebung ist derjenige, welcher nicht im stande ist, die für Befriedigung der Bedürfnisse seiner physischen Existenz nötigen Mittel zu beschaffen. Von der Armut, welche zur Fristung des Lebensunterhalts fremde Hilfe erheischt, ist der Zustand der Dürftigkeit zu unterscheiden, bei welchem zwar eine Befriedigung der Bedürfnisse der ersten Existenz, nicht aber auch solcher Bedürfnisse möglich ist, welche aus individuellen oder sozialen Verhältnissen (Klassenbedürfnissen) erwachsen. Die Ursachen der Armut sind teils individuelle, teils durch äußere Umstände bedingte; teils selbstverschuldete (Müßiggang, Liederlichkeit, Verschwendung), teils unverschuldete (Krankheit, Alter etc.). Zu den letztere gehören insbesondere auch diejenigen, welche durch äußere Umstände, wie Mißwachs, Krisen etc., bedingt sind. Spielten unter denselben früher bei unentwickeltem Verkehr natürliche Ereignisse, wie Mißwachs, eine große Rolle, so treten heute mehr solche in den Vordergrund, welche Änderungen der sozialem Verhältnisse oder der Technik (Änderung der Verkehrsrichtung, Vernichtung des Handwerks durch die Großindustrie etc.) entspringen. Ist infolge solcher allgemein wirtschaftlicher Vorgänge, wie sie vorzüglich in Industriegegenden mit dichter Bevölkerung zu Tage treten können, die Zahl der Hilfsbedürftigen sehr groß, so bezeichnet man einen solchen Zustand als den der Massenarmut oder des Pauperismus (vgl. auch Proletariat).

Allgemeine Aufgaben der Armengesetzgebung.

Nach richtiger, auch in Deutschland anerkannter Auffassung hat der Arme kein vor Gericht klagbares Recht auf Armenunterstützung durch die Organe des Staates oder der Gemeinde, sondern höchstens einen Anspruch gegen nahe, alimentationspflichtige Verwandte. Nun ist aber das Vorhandensein von Armen für ein ganzes Gemeinwesen vom Übel und zwar in sozialer wie in sittlicher Beziehung. Schon von diesem Gesichtspunkt aus erwächst, auch wenn von humanen Rücksichten ganz abgesehen und dem Armen keinerlei Versorgungsrecht eingeräumt wird, für die Gesellschaft im eignen Interesse die in den heutigen Kulturstaaten allgemein anerkannte Verpflichtung, für ihre Armen zu sorgen, welche aber keineswegs immer für ihre wirtschaftliche Lage ausschließlich verantwortlich ge-^[folgende Seite]