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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Armenwesen

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Armenwesen (Organisation der Armenpflege).

diese Weise erhalten. Die Nationalversammlung bewilligte hierfür 15 Mill., die einzelnen Städte schossen noch große Summen zu, Paris allein mehr als 15 Mill.; doch wurde wenig oder nichts gearbeitet. Die Nationalwerkstätten wurden zwar im Verlauf der Revolution wieder aufgelöst, allein die Gesetzgebung stellte Grundsätze auf, die im wesentlichen auf dasselbe hinausliefen. Die Armenpflege wurde vollständig zentralisiert, die Stiftungen wurden sämtlich eingezogen, jede direkte freie Gabe ward verboten, eine Besteuerung zum Zweck der Armenpflege eingeführt, und aus der Staatskasse wurden sodann sämtliche Arme versorgt. Daß man nicht alle befriedigen könne, hatte man eingesehen; man setzte deshalb eine gewisse Zahl fest, je nach den Staatsmitteln, und bei Erledigungen rückten die eingezeichneten Bürger nach ihrer Anciennität ein. Man unterschied zwischen Arbeitsfähigen, für welche Unterstützungsarbeiten überall angeordnet wurden (Straßenbau, Werkstätten), und Arbeitsunfähigen, welche in ihren Häusern oder in Spitälern verpflegt wurden. Wer dennoch bettelte, kam in das Zwangsarbeitshaus. Die Restauration hob diese Gesetzgebung, die übrigens nie vollständig ins Leben getreten war, wieder auf. Das Dekret vom 24. Vendemiaire II bestimmte den sogen. Unterstützungswohnsitz (domicile de secours). In jeder Gemeinde ward ein Bureau d'assistance errichtet. Den Unterstützungswohnsitz in einer Gemeinde besitzt: 1) wer in der betreffenden Gemeinde durch Geburt sein Domizil hat; 2) wer sich ein Jahr (oder als Lohnarbeiter zwei Jahre) in der Gemeinde aufhielt oder im Fall der Verheiratung sechs Monate in derselben weilte; 3) wer sich im Augenblick der Not in der Gemeinde aufhält, vorausgesetzt, daß er als Soldat den Krieg mitmachte, oder altersschwach wurde, oder 70 Jahre alt ist, oder durch Arbeit teilweise erwerbsunfähig wurde, oder erkrankte. Dies 1796 begründete System vervollständigten das Dekret vom 11. Jan. 1811 und das Gesetz vom 5. Mai 1869. Im J. 1881 wurden in 14,033, d. h. im dritten Teil sämtlicher Gemeinden durch die Bureaux de bienfaisance 1,449,021 Personen mit 26,883,261 Frank unterstützt. Auf den einzelnen Armen entfallen jährlich ungefähr 18½ Fr., und zwar ist der Anteil der Pariser Armen an den Unterstützungen im Durchschnitt um ein Drittel stärker als derjenige der Provinzbewohner.

In der Schweiz wurden 1870 (neuere Angaben fehlen): 124,566 Personen durch die Behörden, 91,578 durch Privatvereine unterstützt, so daß von der Gesamtbevölkerung 1870: 4,67 Proz. Unterstützung aus öffentlichen Mitteln in Anspruch nahmen.

Wir wenden uns zu Deutschland. Von grundlegender Bedeutung für die Gegenwart wurden die beiden preußischen Gesetze vom 31. Dez. 1842, betreffend die Aufnahme neuanziehender Personen und die Verpflichtung zur Armenpflege. Die damals aufgestellten Grundsätze sind nämlich in die norddeutsche und deutsche Gesetzgebung über Freizügigkeit, Unterstützungswohnsitz (s. d.) und Armenpflege (1867 und 1870) übergegangen. Von den Landesgesetzen seien noch erwähnt: die sächsische Armenordnung vom 22. Okt. 1840 nebst Novellen vom 18. Sept. 1856 und 5. Mai 1868; das bayrische Gesetz über öffentliche Armen- und Krankenpflege vom 29. April 1869; das badische Gesetz vom 5. Mai 1870, betreffend die öffentliche Armenpflege.

Organisation der Armenpflege.

Das Verständnis des Armenwesens ist dadurch erschwert, daß nicht nur die Grundprinzipien der Wohlthätigkeitsspendung streitig sind, sondern auch in der Armenpflege heutzutage sehr verschiedene Kräfte zusammen oder wenigstens nebeneinander wirken. Um eine Übersicht über den gegenwärtigen Zustand zu gewinnen, muß man unterscheiden: 1) die Subjekte der Armenpflege, 2) die Objekte der Armenpflege, 3) Einrichtung der der Armenpflege dienenden Anstalten und 4) Geldmittel und Lasten der Armenpflege. Von den letztern soll hier abgesehen werden, da das Thema mit der Lehre von den Steuern (s. d. und Armensteuern) eng zusammenhängt. Was die Subjekte anbelangt, so fanden wir im geschichtlichen Ausgang der Entwickelung bei den Orientalen die religiös gebotene Almosenspende durch Privatpersonen, bei Griechen und Römern die Fürsorge des Staates für bedürftige Bürger. Beides tritt in der neuern Zeit zurück. Der Staat bestimmt zwar durch Gesetze, wer zum Unterhalt der Armen verpflichtet sein soll, und auf welche Weise die Erfüllung dieser Pflicht verwaltungsrechtlich gesichert werden soll. Aber nur in seltensten Ausnahmefällen (außerordentliche Notstände bei Überschwemmungen, Kriegsschäden etc.) wendet der Staat aus seinem Vermögen den Bedürftigen zeitweise Unterstützung zu. Das Projekt des Fürsten Bismarck, die Armenlast auf den Staat zu übernehmen, schwebt in weitester Ferne und erscheint nahezu als unausführbar. Was die Privatwohlthätigkeit einzelner Individuen anbelangt, so würde sie trotz des ihr innewohnenden moralischen Wertes überall dann Schaden bringen, wenn sie planlos und ohne Anlehnung an öffentliche Organe sich nach augenblicklichen, oft nur der Schwäche und der Bequemlichkeit entspringenden Eingebungen bethätigen wollte. In allen größern Städten ist der Einzelne nicht im stande, die Bedürftigkeit derjenigen, die sich um Almosen bewerben, zu beurteilen oder zu erforschen. Somit gilt heute die Regel: der Einzelne soll nach Kräften für die Armut spenden, aber nicht selbst austeilen, wo er nicht die genaueste Kenntnis der Bedürftigkeitsgründe gewonnen hat, was nur in ländlichen Gemeinden möglich ist. Viel wichtiger ist es, daß der Einzelne durch persönliche Dienstleistung die Zwecke der öffentlichen Armenpflege zu fördern sucht, wie dies namentlich seit 1852 in Elberfeld geschah und zwar mit einem Erfolg, daß das sogen. Elberfelder System auch außerhalb Deutschlands einen ehrenvollen Ruf gewann. An die Stelle der vorwiegend privaten oder staatlich-politischen Unterstützung der Bedürftigen trat alsdann im Mittelalter die genossenschaftliche und kirchlich-korporative Armenpflege, deren Unzulänglichkeit gleichfalls im Verlauf der Zeiten sich herausstellte. Ihre Wiederbelebung in der Gegenwart, obschon oft genug in Anregung gebracht, scheint wenig versprechend, wenngleich nicht zu leugnen ist, daß die Kirche immer berufen bleibt, den Wohlthätigkeitssinn anzuregen. In der Gegenwart bleibt die Gemeinde das politisch berufene Hauptorgan der Armenpflege, aber unter der notwendigen Aufsicht des Staates, der das Verhältnis der einzelnen Gemeinden zu einander regeln muß und auch dafür Sorge zu tragen hat, daß durch größere, aus mehreren Bezirken gebildete Verbände (in Deutschland Landarmenverbände) diejenigen Leistungen übernommen werden, welche die Kräfte einzelner Gemeinden übersteigen. Da eine geordnete Armenpflege ihrer Aufgabe einer ausreichenden und billigen Versorgung wirklich Bedürftiger, durch welche der Erwerbstrieb nicht gehemmt werden darf, nur bei genügender Kenntnis aller örtlichen und persönlichen Verhältnisse gewachsen ist, so eignet sich dieselbe nicht für eine zentralisierte Verwaltung mit be-^[folgende Seite]