Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Armenwesen

843

Armenwesen (die Armengesetzgebung der Gegenwart).

greifende Organisation des Armenwesens zu schaffen, und einer Verbindung weltlicher (landrätlicher) und geistlicher Behörden (Superintendenten) die Verwaltung der von Pfarrern und Ortsobrigkeiten in den Gemeindebezirken gebildeten Armenkassen zuwies. Weiterhin wurde dann durch das allgemeine Landrecht von 1794 das A. in einer grundsätzlich richtigen Weise geordnet. Danach ist es Sache des Staates, dafür zu sorgen, daß durch kommunale Organe, Gutsbezirke und größere Kommunalverbände die Armenpflege nach Maßgabe der Bedürftigkeit und der örtlichen Zugehörigkeitsverhältnisse genügend wahrgenommen werde.

Neuere Entwickelung der Armengesetzgebung.

Den Ausgangspunkt der modernen Entwickelung bezeichnet das Zeitalter der französischen Revolution. Der alte Feudalstaat mit seinen mangelhaften und ungleichmäßigen Verwaltungseinrichtungen bricht zusammen; die Gutsunterthänigkeit verschwindet auf dem Kontinent. Die modernen Auffassungen erweitern die Aufgabe staatlicher Fürsorge. War die Armut als Notstand bisher vorwiegend aus dem kirchlich-religiösen Gesichtspunkt oder aber als Quelle des Verbrechens von Kriminalisten gewürdigt worden, so erschien sie nunmehr entschieden als soziales Problem. Drei Thatsachen von weitester und allgemeinster Bedeutung beeinflußten den Gang der Armengesetzgebung: 1) Die moderne industrielle Entwickelung als Folge der Dampfmaschinenkraft und des großen Fabrikbetriebs sowie der Übergang zur Geldwirtschaft, wodurch mit der Unsicherheit des Erwerbs und der Häufigkeit der Handelskrisen noch die Gefahr der Verarmung wuchs. 2) Die zunehmende Bewegungskraft der Bevölkerungen durch Wanderungen, wodurch die Gebietsgrenzen ehemals konfessioneller Territorien verwischt wurden, so daß mit der örtlichen Mischung der Glaubensbekenntnisse in Mitteleuropa auch die Möglichkeit kirchlicher Organisationen verringert wurde. 3) Die wissenschaftliche Grundlegung der Nationalökonomie, welche die wirtschaftlichen Ursachen der Verarmung und die Wirkungen des Unterstützungswesens genauer zu erforschen begann und vor allen Dingen den Satz zu erweisen vermochte, daß eine zweckwidrig eingerichtete, planlos verfahrende Armenpflege nur geeignet ist, Not und Elend zu vermehren. Auch in dieser neuesten Epoche ist es England, das die reichsten Erfahrungen auf dem Gebiet des Armenwesens darbietet, was nicht auffallen kann, wenn man die wirtschaftliche Umwälzung betrachtet, die sich in Industrie und Handel gerade dort mit beispielloser Schnelligkeit vollzog. Das Jahr 1785 brachte eine Veränderung in der Niederlassungsgesetzgebung zu gunsten der Freizügigkeit, die den großen Mittelpunkten der Industrie zu statten kam, aber auch die Armenlast vermehrte. Denn die Armensteuer, die gegen Ende des 17. Jahrh. 900,000 Pfd. Sterl. betrug, erreichte 1818 die Summe von 7,870,801 Pfd. Sterl. Im J. 1814 war die Gewerbefreiheit eingeführt worden. Die allgemein empfundenen Übelstände (Überlastung der kleinern ländlichen Kirchspiele, unrichtige Verteilung der Unterstützungen, Zunahme der arbeitsscheuen Armen) nötigten zu einer Reform. So wurde 1834 eine Kommission eingesetzt, um die Zustände und Fehler der bestehenden Armenpflege zu untersuchen und Vorschläge zur Verbesserung zu machen. Auf Grund des von ihr erstatteten Berichts erschien bereits in demselben Jahr ein neues Gesetz, welches folgende Bestimmungen enthielt: 1) Jeder Arbeitsfähige soll zwar von der Gemeinde erhalten, jedoch auch streng zur Arbeit angehalten werden. Dies ist nur möglich durch Arbeitshäuser, welche deshalb überall anzulegen sind. Der Unterhalt der Arbeitsscheuen in diesen Arbeitshäusern soll derart beschaffen sein, daß sie innerhalb derselben weniger gut existieren als außerhalb. Gaben an Arbeitsfähige außerhalb der Arbeitshäuser sind nur ausnahmsweise gestattet und sollen soviel wie möglich beschränkt werden. 2) Die zu beschäftigenden Armen sollen für einen größern Bezirk (sogen. unions) in Arbeitshäusern vereinigt werden. 3) Die ganze Armenpflege steht unter der obern Leitung einer Zentralbehörde in London, welche die Errichtung und Einrichtung sowie die Art und Weise der Beschäftigung der Armen in den Arbeitshäusern beaufsichtigt. 4) Die Armenbezirke mit gemeinschaftlichem Arbeitshaus bilden auch für die Niederlassung ein Ganzes. Ein weiterer Schritt der Gesetzgebung war die Poor removal Act vom 26. Aug. 1846, welche verordnet, daß ein fünfjähriger Aufenthalt durchaus vor der Ausweisung aus der Gemeinde schützt. Die Folgen dieser Gesetzgebung waren sehr günstige. Trotz der bedeutenden Zunahme der Bevölkerung ist die Ziffer der unterstützten Armen und der Aufwand der Armenpflege zurückgegangen. Letzterer sank in der Zeit von 1831 bis 1834 von 8,3 auf 4 Mill. Pfd. Sterl. und ist bis 1881 wieder auf 14,390,262 Pfd. Sterl. gestiegen, wobei freilich Zunahme der Bevölkerung, Sinken des Geldwerts etc. nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Der letzte bedeutsame Akt der englischen Armengesetzgebung ist die 1871 eingetretene Vereinigung der staatlichen Armenaufsichtsbehörde (poor law board) mit dem Ministerium für Gemeindeverwaltungssachen (local government board). Durch die öffentliche Armenpflege in England und Wales wurden 1870 zusammen 1,032,800 Personen (4,7 Proz. der Gesamtbevölkerung) unterstützt, 1882 (obwohl die wirtschaftliche Krisis inzwischen eingetreten war) 797,614 Personen (3,4 Proz.). Das charakteristische Element der englischen Armenpflege liegt in der nachdrücklichen Bevorzugung der sogen. geschlossenen Armenpflege in den Arbeitshäusern (workhouses), wodurch im Gegensatz zur sogen. offenen Armenpflege (out-door relief) dem Abschreckungsprinzip Rechnung getragen wird. Wenn auch in bestimmten Fällen, wie gegenüber 60 Jahre alten Personen, Milde geübt und Ehegatten zusammenzuleben gestattet wird, so überwiegt doch der Charakter der Strenge, wie denn auch Verweigerung der Arbeit und Davonlaufen mit Kriminalstrafe geahndet wird. Die Furcht vor der Zwangsdisziplin der Arbeitshäuser hält manchen Bedürftigen ab, Unterstützung zu suchen, treibt aber auch Arbeitsfähige an, alles aufzubieten, um irgendwie Beschäftigung zu erlangen. In dem mit dem 25. März 1880 schließenden Jahrgang bezahlte England pro Kopf seiner Bevölkerung 6 Schill. 4 P. an wirklicher Armenunterstützung, während die erhobene Armensteuer 10 Schill. 3½ P. auf den Kopf betrug. Aus einen Bestand von 809,341 Almosenempfängern verteilte sich der Gesamtbetrag von 13,033,655 Pfd. Sterl. (einschließlich der Verwaltungskosten). Schottland verwandte 1881 auf 97,781 Arme 951,122 Pfd. Sterl., Irland auf 112,829 Arme 1,239,313 Pfd. Sterl.

Was Frankreich anbelangt, so warf die Revolution das alte System über den Haufen. Schon 1789 wurden Nationalwerkstätten, zunächst in Paris, eingerichtet, in welchen jeder, wer da wollte, gegen die Verpflichtung, zu arbeiten, Aufnahme und Unterhalt fand. Im J. 1790 wurden in Paris 31,000, in Toulouse 11,000, in Amiens 15,000 Arbeiter auf