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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Darwinismus

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Darwinismus (Einfluß auf Anthropologie, Ethnologie, Psychologie etc.; Litteratur).

stungen betrifft, wird durch eine "Vorgeschichte" ergänzt, und die "Vorgeschichte des Menschen" findet wiederum in einer Entwickelungsgeschichte der Erde, des Sonnensystems und des Weltalls ihre ergänzende Vorgeschichte, wobei immer dieselben treibenden Kräfte und dieselben regelnden Gesetze der Entwickelung zu Grunde gelegt werden.

Sofern die Durchforschung der jüngern Erdschichten das hohe Alter des Menschengeschlechts durch echt fossile Funde längst bestätigt hat, und da die vorhistorischen Forschungen zahlreiche Anhaltspunkte für die Entwickelung des Menschen aus niedern, tierähnlichen Zuständen beibrachten, sind Anthropologie und Ethnologie alsbald nach darwinistischen Grundsätzen behandelt worden. Hier gingen ältere französische und englische Forscher voran, wie Boucher de Perthes, Christie, Lartet, Lyell, Lubbock, Tylor, Spencer u. a., während die deutschen Gelehrten, wie Bastian, Virchow u. a., vielfach einen antidarwinistischen Standpunkt einnehmen. Inzwischen sind jedoch die Erfolge der von entwickelungsgeschichtlichen Prinzipien ausgehenden Forscher in der Erklärung der menschlichen Zustände, z. B. hinsichtlich des Ursprungs der Sprache und der Gefühlsäußerungen, der Sitten und Gebräuche, der Gesetze und Religionssysteme, der Gesellschaftsbildungen und Verträge, der Fähigkeiten und Kunstfertigkeiten, so schlagend ans Licht getreten, daß die Frage, welche Richtung auf diesem Gebiet siegreich sein werde, kaum mehr zweifelhaft erscheinen kann. Was den Ausdruck der menschlichen Gemütsbewegungen durch Mienenspiel und Gesten betrifft, so hat auch auf diesem anscheinend fernab liegenden Gebiet Darwin 1872 den ersten sichern Grund gelegt, indem er zeigte, daß unter den höhern Tieren, wie unter den Menschen selbst, eine übereinstimmende Physiognomik entwickelt ist, um die Grundempfindungen, wie Freude, Schmerz, Anhänglichkeit, Furcht, Schrecken, Zorn etc., auszudrücken. Auf dieser Grundlage haben dann Wundt, Preyer u. a. weitergebaut und den Grund zu einer Lehre von einer Entstehung der Instinkte und des Geistes (Psychogenesis, s. d.) gelegt. Was den Ursprung des sprachlichen Ausdrucks der Empfindungen und Gedanken betrifft, so haben über die körperliche Anlage besonders Jäger und Preyrer fruchtbare Gedanken entwickelt. Die Bildung der Begriffe und die Weiterentwickelung der Sprache im mehr oder weniger entschieden darwinistischen Sinn haben besonders Pictet, Geiger, Steinthal, Schleicher, Bleek, Whitney u. a. zu ihrer Aufgabe gemacht und dabei gezeigt, daß sich die Wortformen sowohl als die verschiedenen Sprachen vielfach ganz ähnlich entwickelt, verbreitet und verdrängt haben wie die lebendigen Organismen. Für eine darwinistische Behandlung der Psychologie ist eine materielle Unterlage geschaffen worden, seitdem Hitzig, Fritsch, Ferriar, Munck u. a. die Übereinstimmung der menschlichen mit den tierischen Gehirnfunktionen experimentell nachgewiesen haben, und wie es im menschlichen Gehirn ein besonderes Organ für die Sprache gibt, so nehmen die meisten neuern Psychologen an, daß sich das Denkvermögen und die Fähigkeit, abstrakte Vorstellungen und Begriffe zu bilden, Hand in Hand mit der Sprache entwickelt haben müssen. Das Verhältnis zu den Sinneseindrücken ist namentlich durch Helmholtz, die physische Grundlage durch Meynert, Bain und Maudsley, die Funktion des Gedächtnisses durch Hering, die allgemeine Psychologie durch Horwicz und Spencer bearbeitet worden. Die hierher gehörigen Betrachtungen berühren sich mit denen über das Verhältnis der Ethik und Philosophie zum D., und in beiden Gebieten hat man auf Spinoza zurückgegriffen und die hier auftretenden Fragen im monistischen Sinn zu lösen gesucht. Der Monismus nimmt nicht nur die Einheit von Geist und Materie, sondern auch eine gleichmäßig fortschreitende Entwickelung beider an, und in diesem Sinn haben Carneri, Noiré, Wundt, Caspari sowie neuerdings Frohschammer und Häckel die einschlägigen Fragen zu lösen gesucht. Die Kulturgeschichte vom darwinistischen Standpunkt ist außer von den oben genannten englischen Forschern, die vom ethnologischen Standpunkt ausgehen und die Zustände der wilden Völker zur lehrreichen Vergleichung heranziehen, in mehr historisch-kritischer Richtung von Hellwald, auf psychologischer Grundlage mit besonderer Rücksicht auf Mythologie und Entwickelung der religiösen Vorstellungen von Caspari, Twesten, Lang, Strauß u. a. behandelt worden. Die Gesellschaftswissenschaften und Politik haben unter andern Bagehot, Spencer, Lilienfeld in diesem Sinn betrachtet, die Rechtswissenschaften Post und Fick, die Medizin Kühne u. a., so daß beinahe kein Gebiet des menschlichen Forschens und Denkens von dieser bedeutenden Geistesbewegung unberührt geblieben ist. Den einenden Mittelpunkt aber, in welchem sich alle diese Wissenschaften und Bestrebungen zusammenfinden, bildet der befruchtende Gedanke, daß der Mensch mit allem seinen Denken und Empfinden, mit allem seinen Können und seinen Einrichtungen ein Gewordenes ist, wie die gesamte Natur.

Vgl. Ch. Darwin, Gesammelte Werke (deutsch von Carus, Stuttg. 1875-82, 13 Bde.); Derselbe, Kleinere Schriften (hrsg. von Krause, Leipz. 1886); Wallace, Beiträge zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl (deutsch von A. B. Meyer, Erlang. 1870); Häckel, Generelle Morphologie (Berl. 1866, 2 Bde.); Fritz Müller, Für Darwin (Leipz. 1864); Weismann, Studien zur Deszendenztheorie (das. 1875-76, 2 Tle.). Mehr darstellend sind: Häckel, Schöpfungsgeschichte (7. Aufl., Berl. 1879); G. Jäger, Die Darwinsche Theorie (Wien 1869); Seidlitz, Die Darwinsche Theorie (2. Aufl., Leipz. 1875, mit ausführlichen Litteraturangaben); O. Schmidt, Deszendenzlehre und D. (2. Aufl., das. 1875); Spencer, Prinzipien der Biologie (deutsch, Stuttg. 1876). Ganz populär gehalten sind: Büchner, Sechs Vorlesungen über die Darwinsche Theorie (4. Aufl., Leipz. 1876); Ratzel, Sein und Werden der organischen Welt (das. 1869); Dodel, Die neuere Schöpfungsgeschichte (das. 1875); Carus Sterne, Werden und Vergehen (3. Aufl., Berl. 1885). Über die Stellung des Menschen in naturhistorischer Beziehung handeln insbesondere: Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen (deutsch von Carus, Braunschw. 1863); Häckel, Anthropogenie (3. Aufl., Leipz. 1877); Lyell, Das Alter des Menschengeschlechts (deutsch von Büchner, 2. Aufl., das. 1874). Von den gegnerischen Schriften seien hervorgehoben: Wigand, Der D. (Braunschw. 1873-76, 3 Bde.), und v. Baer, Studien aus dem Gebiet der Naturwissenschaften (Petersb. 1876). Die Einwürfe des erstern sind von Jäger ("In Sachen Darwins contra Wigand", Stuttg. 1874), die des letztern, welche sich nur gegen einzelne Punkte wenden, von Seidlitz ("Beiträge zur Deszendenztheorie", Leipz. 1876) zurückgewiesen worden. Vielfach abweichende Ansichten erörtert C. v. Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre (Münch. 1884). Seit 1877 vertritt den D. eine besondere Monatsschrift: "Kosmos" (Stuttg.).