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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Volksstämme).

Auf der dürftigen Heide und den ausgedehnten Mooren im N. zwingt ihn die Armut des Landes zum Teil dazu, nach Bestellung seines Ackers mit Spaten und Sense nach Holland auszuwandern und dort durch Hilfe bei der Heuernte, durch Torfstechen, in Ziegeleien u. dgl. sein Brot zu erwerben und mit dem Ersparten heimzukehren. In den fruchtbaren Gauen lebt der freie Bauer zum Teil noch nach alter Sachsenart als Patriarch auf seinem Einzelgehöft, das, von einem mit Eichen bestandenen Erdwall umschlossen, diesen Gegenden ihr charakteristisches Gepräge verleiht und Sitte, Gewohnheit und Lebensweise bedingt. Wenngleich hier eine ziemlich bedeutende Schweinezucht betrieben wird, so überwiegt doch der reine Ackerbau. Im Osten (Bielefeld) finden wir den fleißigen Leinweber; im gebirgigen Süden ist wohl Zersplitterung des Bodens zu Hause, aber auch die regste Fabrikthätigkeit; hier pochen und hämmern die Eisenwerke, namentlich im Lennegebiet und bei Solingen, hier sitzt der Weber emsig hinter seinem Webstuhl; hier artet aber auch bei der stillen Thätigkeit des Webers der Ernst des Westfalen zu religiöser Grübelei aus und macht das Wupperthal und südlich das Siegener Land zu einem Hauptsitz des Separatismus in der evangelischen Kirche. Auch die strenge, ausschließende Richtung des Katholizismus kann in wenig Teilen Deutschlands größer sein als im Münsterland und in Paderborn. Der Niedersachse, der Hannover, Schleswig-Holstein, Braunschweig bewohnt, hat vieles mit dem verwandten Westfalen gemein. Hier, wo vorzugsweise Ackerbau und Viehzucht zu Hause sind, fehlen jene religiösen Verirrungen der Fabrikgegenden. Wohl lebt auch hier in den westlichen Gegenden der Bauer noch vielfach im Wohlstand auf seinem Gehöft, wandert der arme Moorbewohner zur Heuzeit nach Holland; aber im übrigen Hannover überwiegen die Bauerndörfer, die großen adligen Güter und die Domänen, und die erste Hälfte dieses Jahrhunderts hat durch die Aufteilung ausgedehnter Weideflächen und durch die Abrundung der einzelnen Besitzungen (Verdoppelung), die bis dahin als Gemeindegrund nur einen geringen wirtschaftlichen Nutzen abwarfen, den Landwirt in eine wesentlich günstigere Lage versetzt und den Sporn zu frischer Thätigkeit in die Masse des Landvolkes gebracht.

Von Niedersachsen aus wurden einst die Mark, Mecklenburg und Pommern der slawischen Herrschaft entrissen und das ursprünglich wendische Land germanisiert. So groß wie hier war in D. nirgends der Gegensatz des Gutsbesitzers und des Hörigen; erst Friedrich Wilhelm III. hob 1809 die Erbunterthänigkeit in seinen Landen auf, in andern blieb sie bis tief in dieses Jahrhundert hinein. Mecklenburg, Ukermark, Pommern sind die Länder der großen Rittergüter und Domänen und der seltenen Bauerndörfer. Hier herrscht auch noch ein schroffer Gegensatz zwischen Stadt und Land. Die Masse der Bevölkerung in Mecklenburg ist nicht dem Buchstaben des Gesetzes nach, aber faktisch im Zustand der Hörigkeit, auch unter der Hand wohlgesinnter Gutsherrschaften ohne Aussicht, sich Selbständigkeit zu erringen. Mecklenburg zeigt daher, wie neuerdings Pommern, wo der große Grundbesitz ähnliche Verhältnisse hervorgerufen, bei fruchtbarem Ackerboden, fetten Weidegründen, dünner Bevölkerung und Mangel an Arbeitskräften fortdauernde Auswanderung. Das flache Niedersachsen sowie der ganze Norden sind mit Ausnahme ihrer Städte arm an industrieller Thätigkeit; nur der Harz ist reicher, und Berlin ist der industrielle Mittelpunkt Norddeutschlands geworden. Auch die Provinzen Ost- und Westpreußen sind größtenteils durch die Niedersachsen dem Deutschtum zurückgewonnen, nur daß daselbst durch zahlreiche Einwanderungen aus Süddeutschland noch oberdeutsche Dialekte in eigentümlicher Mischung mit dem Niederdeutschen zu finden sind, z. B. im Ermeland.

Im größern Teil Deutschlands herrscht hochdeutsche Sprache. Unter den hochdeutschen Stämmen sind der obersächsische, fränkische, alemannisch-schwäbische und bayrisch-österreichische die wichtigsten. Zum obersächsischen Stamm gehören die Thüringer und Harzbewohner, die bis zur Werra und Leine reichen, die Meißener im Königreich Sachsen (mit den deutschen Bewohnern des nordwestlichen Böhmen) und die Schlesier mit den Bewohnern des Riesengebirges, der Sudeten und Teilen der Provinz Posen. Durch Eroberung anfänglich, später auch friedlich im Lauf der Zeiten ist die obersächsische Sprache Herr geworden über das bis zur Elbe und darüber bis zur Thüringischen Saale einst seßhafte wendisch-sorbische Volk. Hier und da hat sich aber auch in Tracht und Sitte, wie in Altenburg, allenthalben aber noch in Fluß-, Orts- und Flurbenennungen Wendisches erhalten. In der Ebene wohnen fleißige Ackerbauer, im Berg- und Gebirgsland hat der Erzreichtum zum Bergbau, dann Übervölkerung bei dürftigem Boden zur reichsten Entwickelung gewerblichen Lebens geführt. Das bergige Osterland (Vogtland), vor allem das Sächsische Erzgebirge, die Oberlausitz, das Land am Riesengebirge in Schlesien (wie in Böhmen) sind Hauptstätten gewerblicher Thätigkeit, wo Bergbau und Hüttenwesen, Spinnerei, Weberei, Spitzenklöppeln, Sticken und zahlreiche andre Industriezweige im blühenden Betrieb sind. Westlich von Thüringen wohnten, mit den Sachsen verwandt, die Hessen, durch strengen Fleiß dem Boden seinen Ertrag abringend, kräftig und zäh, unter allem Druck an dem festhaltend, was sie für Recht erkannten.

Ausgedehnt ist das Gebiet des fränkischen Stammes, aber zerstückelt unter vielerlei Herrschaft. Sein Gebiet reicht vom Fichtelgebirge und Böhmerland bis über den Rhein, von der Grenze Hessens und vom Rennsteig des Thüringer Waldes bis hinab gegen die Donau, bis zum Ries, ins Hohenlohische an der Jagst und am Kocher, am Rhein von Bonn bis hinauf zur nördlichen Grenze des Schwarzwaldes. Auch der Franke hat sich im O. slawisches Blut assimiliert, und weit westwärts reichen noch slawische Namen. Zum fränkischen Stamm gehören die Oberpfälzer, deren Gebiet über den Böhmerwald bis nach Böhmen hineinreicht, die Ostfranken oder Franken schlechthin im Maingebiet und im obersten Gebiet der Werra, die Rheinfranken, zu denen auch die Rheinpfälzer bei Heidelberg und in der jenseitigen Rheinpfalz gehören. Sie leben in Dörfern und Städten, die auch in den fruchtbaren Ebenen, wo ergiebiger Ackerbau und lohnende Viehzucht betrieben werden, Sitze der Gewerbthätigkeit sind, wie Hanau, Offenbach, Schweinfurt, vor allen aber Nürnberg und seine Umgegend. Am mittlern Main und in den Seitenthälern der Saale und Tauber, vornehmlich aber am Rhein und in seinen Nebenthälern ist der Franke ein fleißiger Weinbauer. Der Hauptsitz der Gewerbthätigkeit ist auch hier das Gebirge: der Böhmerwald, das Fichtelgebirge und vor allen der Thüringer Wald; geringer sind die Hilfsquellen der Rhön, das ärmste Land aber ist der Spessart. Im äußersten Westen schließt sich dem Rheinfranken der Niederlothringer an der Mosel bei Trier und in der Eifel an.