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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1519-1524. Karl V., Reformationszeit).

während man die Gefahr seiner allzu großen Macht für die Freiheit der Reichsstände durch eine Wahlkapitulation unschädlich zu machen beschloß, welche ihm besonders die Wiedereinsetzung eines Reichsregiments zur Pflicht machte, erhoffte man zugleich von ihm die Wiederherstellung des Glanzes der deutschen Kaiserkrone und der äußern Machtstellung des Reichs. Auch die Entschiedenheit, mit der sich die öffentliche Meinung in D. für das "junge Blut von Österreich" aussprach, die Drohungen, welche die Führer des nach der Vertreibung des Herzogs Ulrich von Württemberg bis in die Nähe Frankfurts vorgedrungenen schwäbischen Bundesheers gegen die Anhänger Franz' I. verlauten ließen, trugen dazu bei, daß Karl V. (1519-1556) zum Kaiser gewählt wurde. Hiermit war das Schicksal Deutschlands zu seinem Unglück entschieden. In der wichtigen Krisis, vor der es stand, hätte es eines einsichtigen und entschlossenen Führers bedurft. Karl V. war der rechte Mann nicht und konnte es nicht sein. Bei seinem Streben nach der Weltherrschaft war ihm zwar die Kaiserkrone erwünscht, aber die materielle Grundlage seiner Macht bildete die starke spanische Monarchie. D. blieb ihm nur ein Nebenland, dessen Kräfte er wohl, soweit möglich, ausnutzen, dessen Wohl er aber die eignen Interessen nicht widmen oder aufopfern wollte. Ohne tieferes religiöses Gefühl ganz im Bann der mittelalterlichen Kirche befangen, war er einer durchgreifenden kirchlichen Reform durchaus abgeneigt, wenn er auch die Opposition gegen die päpstliche Hierarchie gelegentlich zu seinem Vorteil ausbeutete, um den Papst in politischen Dingen gefügiger zu machen. Er war also weder gewillt, noch im stande, die Hoffnungen, mit denen das deutsche Volk ihn begrüßte, zu erfüllen. Die Deutschen haben das freilich erst spät, zum Teil gar nicht eingesehen.

Erst im Herbst 1520 erschien Karl V. in D., um sich in Aachen krönen zu lassen und dann den Wormser Reichstag abzuhalten. Auf diesem wurden 1521 die Bestellung eines ständischen Reichsregiments während der Abwesenheit des Kaisers von D., die Reform des Reichskammergerichts, die Aufstellung einer Matrikel für die Bezahlung der Kosten durch die Stände, endlich die Festsetzung der Truppenmacht, mit der das Reich fortan den Kaiser in Italien zu unterstützen hatte, durch Vereinbarung zwischen den Fürsten und dem Kaiser rasch erledigt. Denn schon drohte der Krieg mit Frankreich in Oberitalien auszubrechen, dessen siegreiche Beendigung Karl vor allem am Herzen lag. Es war ihm gelungen, Papst Leo X. durch die Zusage für sich zu gewinnen, daß er der Ketzerei in D. ein Ende machen und den bereits mit dem Bann belegten Luther auch mit weltlichen Strafen züchtigen wolle. Da die Stände sich weigerten, jemand ungehört zu verdammen, wurde der Wittenberger Mönch vor den Reichstag citiert. Er erschien trotz der Gefahr eines grausamen Todes, die ihm drohte, und gab vor versammelten Kaiser und Ständen 18. April 1521 auf die Forderung des Widerrufs jene mannhafte Antwort, die ihm die Herzen vieler Fürsten, vor allem aber des deutschen Volkes gewann. Karl blieb von der religiösen Begeisterung, die aus dem schlichten Mönch und aus der mächtigen Bewegung im Volk sprach, ungerührt. Zwar schonte er Luther, aber als er abgereist war und die meisten Stände Worms verlassen hatten, sprach er über ihn die Acht aus und erließ das Wormser Edikt, welches die weitere Verbreitung der ketzerischen Lehre Luthers aufs strengste verbot und alle ihre Anhänger und Beschützer mit gleicher Strafe der Acht bedrohte. Hiermit sagte sich der neue Beherrscher Deutschlands von der kirchlichen Reformbewegung los und stellte sich dem religiösen und nationalen Ziel der Besten des deutschen Volkes, nämlich Befreiung von dem pontifikalen Joch und Begründung einer nationalen, wahrhaft christlichen Kirche, fremd, ja feindselig gegenüber. Nachdem er die österreichischen Erblande und die Verwaltung des 1519 eroberten Herzogtums Württemberg seinem Bruder Ferdinand übertragen hatte, verließ er 1521 D. wieder, um erst nach neun Jahren (1530) dahin zurückzukehren.

Obwohl die Zurückweisung der Wünsche des Volkes durch das Wormser Edikt hier und da bereits den Ausbruch von Unruhen zur Folge hatte und während Luthers Exil auf der Wartburg in Sachsen die Schwarmgeister und Bilderstürmer sich regten, nahm das in Nürnberg zusammentretende Reichsregiment die Sache der kirchlichen und politischen Reform mit Ernst in die Hand. Der neue Papst, Hadrian VI., kam den Wünschen der deutschen Nation wenigstens darin entgegen, daß er die Abstellung der schlimmsten Mißbräuche ebenfalls beabsichtigte. Der Nürnberger Reichstag faßte 1523 die Forderungen Deutschlands in 100 Gravamina ("Beschwerden") zusammen, verlangte binnen Jahresfrist ein allgemeines, freies Konzil auf deutschem Boden, auf dem auch die Laien Sitz und Stimme hätten, und forderte bis zu demselben die freie Verkündigung des reinen, lautern Evangeliums. Aber da das Reichsregiment zu gleicher Zeit eine festere Organisation des Reichs beriet und mit dem Plan umging, die Kosten der neuen Gerichts- und Heeresverfassung durch Errichtung einer Reichszolllinie aufzubringen, sagten sich die Städte in engherzigem Eigennutz vom Regiment los und betrieben beim Kaiser die Auflösung desselben. Noch mehr waren die Ritter durch den Gang der Dinge enttäuscht worden. Statt einer religiösen und politischen Reform, die dem Ritterstand wieder zu Macht und Ansehen verholfen hätte, wie Sickingen und sein feuriger, leidenschaftlicher Freund Hutten sie geträumt hatten, ward die Regierung im Reich den verhaßten Fürsten übertragen. 1522 vereinigten sich die alten Ritterbünde am Rhein und Main zu einer Erhebung für religiöse und politische Freiheit gegen die fürstliche Allgewalt, der sich, wie sie hofften, auch die Städte anschließen würden. Sie begann mit dem Überfall Sickingens auf Trier (1522); doch dieser mißlang, die Fürsten am Mittelrhein verbanden sich zu rascher und kräftiger Gegenwehr, welcher die Reichsritter bald unterlagen; Sickingen fiel bei der Verteidigung seiner Feste Landstuhl (1523), Hutten endete in der Schweiz im Elend.

Mit Schlauheit und List wußten der Papst Clemens VII., ein Mediceer, der nach Hadrians frühem Tode den römischen Stuhl bestiegen, und sein Legat in D., Campeggi, diese Erhebung der Ritter gegen die Reformbestrebungen auszubeuten. Campeggi vereinigte auf dem Regensburger Konvent (Juni 1524) mehrere weltliche Fürsten, wie den Erzherzog Ferdinand und die bayrischen Herzöge, und die süddeutschen Bischöfe zu dem Beschluß, daß einige kirchliche Mißbräuche abgestellt, der weltlichen Gewalt mehrere Zugeständnisse (und pekuniäre Vorteile) eingeräumt, dafür aber die Lutherschen Lehrmeinungen nicht geduldet werden sollten. Zuerst also trennten sich die Anhänger der päpstlichen Hierarchie von der gemeinsamen Sache und verursachten so die religiöse Spaltung in D., welche gerade zu verhüten die oberste nationale Pflicht gewesen wäre. Diese rückläufige Strömung wurde verstärkt durch die Erhebung des Bauernstandes im Bauernkrieg. Die evangelische