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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1525-1529. Reformationszeit, Karl V.).

Freiheit, welche Luther und seine Freunde verkündigten, wollten die hart bedrückten Bauern auf ihre soziale Lage ausgedehnt wissen, wie denn auch die Heilige Schrift von Hierarchie, von Scheidung der Stände, von Zehnten, Privilegien und Fronen nichts sage. Die zwölf Artikel, welche anfangs das Programm der Bewegung, das "Manifest des gemeinen Mannes" waren, beschränkten sich darauf, das göttliche Recht des Menschen auf Freiheit zu behaupten und die freie Predigt des Evangeliums, die Wahl der Pfarrer, Abschaffung der Leibeigenschaft, des kleinen Zehnten, des Jagd- und Waldrechts der Herren und der Fronen zu fordern. Bald aber artete der Aufstand in wilde Zerstörungswut aus. Die zuchtlosen Bauernscharen sengten und brannten alles nieder, was sich ihnen entgegenstellte, Klöster und Burgen, und verübten die furchtbarsten Grausamkeiten; alle Versuche, Ordnung und Einheit in die Masse zu bringen, waren erfolglos. So war es dem Heer des Schwäbischen Bundes möglich, in Süddeutschland die Empörung zu unterdrücken, während die mitteldeutschen Fürsten unter Führung Kursachsens die Scharen des schwärmerischen Fanatikers Thomas Münzer bei Frankenhausen vernichteten (1525). Die Ordnung in D. war wiederhergestellt, aber die Lage des Bauernstandes wurde schlimmer als vorher; eine Befreiung und Erhebung desselben aus geistigem und materiellem Druck durch die Reformation war nun unmöglich, wenn auch die Funken mystisch-schwärmerischer Erregung noch lange unter der Asche fortglommen. Nicht das Volk war fortan der Träger der großen religiösen Bewegung, sondern die Reichsstände, und ihre Sonderinteressen verflochten sich fortan auf verhängnisvolle Weise mit derselben.

Während das Reichsregiment, nach Eßlingen verlegt, noch kurze Zeit eine ohnmächtige Scheinexistenz fortführte, entschlossen sich nun die Anhänger der Reformation, ebenso wie ihre Gegner auf dem Regensburger Konvent, zu selbständigem Vorgehen. Der Kurfürst Johann der Beständige von Sachsen, Landgraf Philipp von Hessen, die Markgrafen von Ansbach und Baireuth, die Herzöge von Pommern und Mecklenburg, mehrere der braunschweigischen Herzöge, die Fürsten von Anhalt und die Grafen von Mansfeld, ferner der Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg, der den geistlichen Staat Ostpreußen in ein weltliches Herzogtum verwandelte, führten die Kirchenreform nach Luthers Anweisung, der so wider Willen zu einer fast herrschenden Stellung erhoben wurde, in ihren Territorien durch. Die bischöfliche Gewalt für sich beanspruchend, beseitigten sie alles, was der Lehre der Heiligen Schrift widersprach, besonders Cölibat und Messe; der öffentliche Gottesdienst und das Schulwesen wurden reorganisiert, die Klöster säkularisiert und ihre Güter zu Kirchen- und Schulzwecken bestimmt, freilich nur teilweise; ein großer Teil des eingezogenen Kirchenguts diente auch zur Vermehrung des fürstlichen und des landständischen Vermögens. Den Fürsten schlossen sich die bedeutendsten Reichsstädte an, wie Lübeck, Bremen, Hamburg, Magdeburg, Ulm, Augsburg, Frankfurt, Straßburg und Nürnberg; die Künste und Wissenschaften blühten in ihnen unter dem Schutz religiöser Freiheit auf. Ohne Zweifel ist die geistige Einheit des deutschen Volkes dadurch gefördert worden, daß die hochdeutsche Sprache als Kirchen- und Schulsprache der Reformation wieder in Norddeutschland herrschende Schriftsprache wurde; im 15. Jahrh. drohte der Norden des Reichs sich politisch wie sprachlich vom Süden gänzlich loszulösen. Indes durch die eigenmächtige Reform der Stände wurde auch der fürstliche Partikularismus sehr gekräftigt, individuelle dogmatische Überzeugungen der Fürsten und ihrer Theologen machten sich mehr und mehr geltend und führten eine Zersplitterung der reformatorischen Thätigkeit herbei, welche den Samen religiöser Zwietracht säete und als die evangelischen Stände, nachdem sich die einflußreichsten Mitglieder im Torgauer Bund (Juni 1526) über eine gemeinsame Haltung verständigt hatten, auf dem Reichstag in Speier im August 1526 den Beschluß erwirkten, daß "in Sachen der Religion und des Wormser Ediktes jeder Reichsstand so leben, regieren und es halten solle, wie er es gegen Gott und Kaiserliche Majestät zu verantworten sich getraue", war damit die nationale Zerrissenheit, wie sie durch die Entstehung selbständiger Territorien in den letzten Jahrhunderten sich gestaltet hatte, auch auf das kirchliche und religiöse Leben übertragen und durch den Grundsatz "Cujus regio, ejus religio" die Hoffnung, an der Hand der Reformation auch eine nationale Einheit zu schaffen, für immer vereitelt. Der Gegensatz zwischen Luther und Zwingli, welcher auf dem zu ihrer Versöhnung berufenen Religionsgespräch zu Marburg (1529) durch Luthers Starrsinn unheilbar wurde, vermehrte die religiöse Spaltung, da die süddeutschen Stände, besonders die Reichsstädte, mehr zu den Schweizer als zu den Wittenberger Reformatoren hinneigten.

Die unerwartete Zustimmung des Kaisers zu den Beschlüssen des Speierer Reichstags war durch politische Erwägungen veranlaßt worden, welche, durch die Beziehungen zu Frankreich und dem Papst bedingt, mit deren Veränderung auch eine andre Richtung annahmen. In dem Krieg mit Franz I. von Frankreich 1521-26, bei dem es sich vor allem um die Herrschaft in Italien handelte, hatten die kaiserlichen Heere nach manchem Wechsel des Kriegsglücks endlich 24. Febr. 1525 den entscheidenden Sieg von Pavia davongetragen, der die französische Armee vernichtete und den König Franz selbst dem Kaiser in die Hände lieferte. Nach langer Gefangenschaft mußte sich Franz zu dem Frieden von Madrid (14. Jan. 1526) verstehen, in welchem er auf Neapel und Mailand verzichtete und selbst Burgund herauszugeben versprach. Beide Herrscher verbanden sich zu gemeinsamem Vorgehen sowohl wider die Türken als wider die Ketzer, "die sich vom Schoß der heiligen Kirche losgerissen". Aber kaum in Freiheit gesetzt, brach Franz I. den Vertrag und schloß mit dem Papst Clemens VII., der seinen Eidbruch billigte, 22. Mai 1526 die Heilige Ligue von Cognac, welcher auch Heinrich VIII. von England seinen Beistand zusagte. Während der Krieg in Italien von neuem entbrannte, wurde auch die deutsche Macht des Hauses Habsburg in einen gefährlichen Krieg verwickelt. Die Ungarn erlagen in der Schlacht bei Mohács (29. Aug. 1526), wo ihr junger König Ludwig selbst fiel, einem neuen Angriff der Türken, und Ferdinand, Ludwigs Erbe in Ungarn und Böhmen, war nun selbst durch die türkische Macht bedroht. Karl mußte daher 1526 vorläufig von einem Einschreiten gegen die deutschen Ketzer Abstand nehmen. Aber als er durch die Erstürmung Roms (1527) Clemens VII. gedemütigt und zur Nachgiebigkeit geneigt gemacht, sodann einen Versuch der Franzosen, Neapel und Mailand wiederzuerobern, vereitelt hatte, schloß er mit dem Papst 1529 den Frieden von Barcelona, mit Franz den von Cambrai; in diesem verzichtete er auf Burgund, behielt aber die Herrschaft in Italien, welche nun auch Clemens anerkannte. Karl verpflichtete sich dagegen, wider die Ketzerei in