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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Elsaß-Lothringen

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Elsaß-Lothringen (seit 1870).

sche Sprache im Elsaß zur ausschließlichen Herrschaft zu bringen und die deutsche auszumerzen. Unter der Regierung des zweiten Kaiserreichs gelang dieser Versuch zum Teil durch die Unterstützung, die der katholische Klerus dabei leistete. Dennoch hielten die Elsässer in der Wissenschaft und in der Dichtung die deutsche Muttersprache mit wahrhaft erstaunenswerter Zähigkeit fest, und selbst die litterarischen Vereine bedienten sich bis auf die neueste Zeit häufig des Deutschen bei ihren Publikationen. Nachmals konnte freilich zuweilen die Bemerkung gemacht werden, daß diese Eigentümlichkeit der Deutsch-Franzosen im Elsaß wenig Bedeutung für politische und nationale Gesinnung habe. Während des deutsch-französischen Kriegs 1870/71 bezeugten die Elsässer bei jeder Gelegenheit ihre Sympathien für Frankreich. Im Frankfurter Frieden wurden die in den Präliminarien zu Versailles bestimmten Grenzen für die Abtretung des Elsaß und Deutsch-Lothringens nicht unbedeutend berichtigt. Im Kanton Brie an der luxemburgischen Grenze galt es, eine Anzahl wirklich deutscher Gemeinden zu gewinnen; deshalb wurden noch außer Belfort im Süden von den französisch redenden Kantonen Giromagny, Fontaine, Delle noch weitere 385 qkm mit 25,000 Einw. zurückgegeben, so daß der bei Frankreich gebliebene Teil des Sundgaues im ganzen 660,7 qkm mit 55,000 Menschen beträgt.

Elsaß als deutsches Reichsland.

Die Verschmelzung Elsaß-Lothringens mit Deutschland war durch die eigentümliche Stellung, in die es zu dem neuen Deutschen Reiche gebracht wurde, nicht wenig erschwert. Der Bundesrat beschloß nämlich, E. für ein Reichsland zu erklären, über welches das Reich selbst der Träger der Souveränität war, und dessen Landesgesetzgebung dem Bundesrat und dem Reichstag zufiel. Doch verlangte der Bundesrat für einige Jahre die Diktatur, welche ihm auch 3. Juni 1871 vom Reichstag bis zum 1. Jan. 1874 bewilligt wurde. Hierauf wurde das Reichsland nach Abberufung des Generalgouverneurs Grafen Bismarck-Bohlen und des Zivilkommissars Kühlwetter nach dem Muster einer preußischen Provinz organisiert. Am 6. Sept. 1871 ward der bisherige Oberpräsident von Hessen-Nassau, v. Möller, zum Oberpräsidenten mit dem Sitz in Straßburg ernannt, ihm ein Kollegium unter dem Titel "kaiserlicher Rat von E." beigegeben und im Reichskanzleramt eine besondere Abteilung für die Reichslande unter dem Unterstaatssekretär Herzog gebildet. Die drei alten Departements wurden in Regierungsbezirke verwandelt, diese wieder in 22 Kreise eingeteilt und 24. Jan. 1873 die Bildung von Kreis- u. Bezirkstagen angeordnet. Die Bevölkerung verhielt sich der deutschen Verwaltung gegenüber teils gleichgültig, teils feindlich. Die Gebildeten sehnten die Rückkehr der französischen Herrschaft herbei, besonders die katholische Geistlichkeit ward die heftigste Gegnerin Deutschlands, seitdem durch Einführung der allgemeinen Schulpflicht (18. April 1871), durch Beseitigung der Schulbrüder und Schulschwestern aus den Elementarschulen und durch den Erlaß eines Unterrichtsgesetzes (3. Febr. 1873) die Macht des Klerus über die Schule auch in E. gebrochen worden war, gleichzeitig in Frankreich aber die Klerikalen zur Herrschaft zu gelangen Aussicht hatten. Unter dem Terrorismus des Klerus und der Gebildeten, der durch öffentliche und geheime Mittel (so durch die Flugblätter der Elsässer Liga) ausgeübt ward, wurde bewirkt, daß die Wohlthaten der neuen Verwaltung, die bedeutenden Entschädigungen für Kriegsverluste, die Verringerung der Steuerlast, die Verbesserung des Post-, Telegraphen- und Eisenbahnwesens, die Abschaffung des Tabaksmonopols u. dgl., gar nicht gewürdigt wurden, dagegen manche notwendige Belästigungen die heftigsten Klagen hervorriefen, so besonders die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die Ausführung der Optionsangelegenheit. Auf Grund des Frankfurter Friedensvertrags forderte die Regierung 1872 die Bevölkerung auf, sich bis 1. Okt. zu erklären, ob sie Franzosen sein wollten. Dies erklärten nun 160,000, aber nur 50,000 wanderten nach Frankreich aus; die übrigen, darunter viele Unerwachsene, beanspruchten die Vorrechte der Fremden, also Befreiung von der Dienstpflicht, ohne ihren Wohnsitz verlassen zu müssen. Dies wollte natürlich die Regierung nicht gelten lassen; sie behandelte die trotz der Option Zurückbleibenden als Deutsche und verfolgte mit Strenge alle, die ohne Option sich der Militärpflicht entzogen und dann ohne Erlaubnis nach E. zurückkehrten.

Die großen Verdienste, die sich die Regierung durch die Organisation der höhern Schulen und die Errichtung einer Universität in Straßburg 1. Mai 1872 erwarb, fanden selbst bei den Liberalen keinen Beifall, weil die französische Sprache in den Schulen teils abgeschafft, teils beschränkt wurde. Ja, in den größern Städten machte sich die Opposition am schärfsten bemerkbar: in Straßburg mußte der Bürgermeister Lauth 7. April 1873 abgesetzt und acht Tage später der Gemeinderat suspendiert werden, weil sie der Regierung offen opponierten. Ähnliches geschah später in Metz und Kolmar. Von den im August 1873 gewählten Kreis- und Bezirksräten verweigerten so viele den Eid der Treue, den sie dem Kaiser leisten sollten, daß von 22 Kreistagen nur 14, von den 3 Bezirkstagen nur einer beschlußfähig war und eröffnet werden konnte. So kam es, daß bei den ersten Reichstagswahlen 1. Febr. 1874: 10 Ultramontane und 5 liberale Protestler gewählt wurden. Die 15 elsässischen Deputierten erhoben bei ihrem Eintritt in den Reichstag 16. Febr. 1874 feierlichen Protest gegen die Annexion, und die Protestler nahmen an den Verhandlungen nicht mehr teil. Eine gemäßigtere Haltung zeigten die Kreis- und die Bezirksräte, welche im Sommer 1874 gewählt waren und ruhig und sachgemäß die Geschäfte erledigten. Die Errichtung eines Provinziallandtags konnte man den Elsässern zwar noch nicht zugestehen, doch verordnete der Kaiser 29. Okt. 1874, daß je zehn Delegierte der drei Bezirkstage zu einem beratenden Landesausschuß zusammentreten sollten. Dieser trat 17. Juni 1875 zu seiner ersten Session zusammen, beriet das Budget für 1876 sorgfältig durch und nahm in seiner zweiten Session 1. Juni 1876 die Regierungsvorlage an, wonach alle Gesetze, die der Landesausschuß genehmigt habe, fortan vom Kaiser nur unter Zustimmung des Bundesrats verkündet werden sollten; der Reichstag sollte nur zugezogen werden, wenn Regierung und Landesausschuß sich nicht verständigen könnten. Der Reichstag stimmte dem Gesetz 20. März 1877 bei.

Der Umschwung in der Stimmung der Bevölkerung zeigte sich bei den beiden Besuchen des Kaisers im September 1876 in Weißenburg und Wörth und im Mai 1877 in Straßburg und Metz, ferner aber in der Bildung einer neuen Partei, der sogen. Autonomsten, deren Organ das von Schneegans redigierte "Elsässer Journal" war, und die als letztes Ziel die Regierung des Landes durch das Land selbst im Auge hatten. Bei den zweiten Reichstagswahlen 10. Jan. 1877 eroberten die Autonomsten schon sämtliche unterelsässische Wahlkreise; die Ultramontanen behielten 6, die Protestler 4.