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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Epilepsie

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Epilepsie.

ser ziemlich häufig vorkommenden Krankheit, über die Art ihrer Entstehung und die sie veranlassenden Ursachen sind wir nur sehr mangelhaft unterrichtet. Frauen leiden häufiger an E. als Männer, kein Lebensalter bleibt von derselben verschont; doch fallen die meisten Fälle auf die Zeit vom 10. bis 20., dann auf die Zeit vom 2. bis 10. und nächstdem auf die vom 20. bis 30. Jahr. Im eigentlichen Greisenalter sowie in den ersten Lebensmonaten kommt E. kaum vor. Die wichtigste Rolle in der Ätiologie der E. spielt unverkennbar eine gewisse angeborne Anlage, welche sich wohl bei einem Drittel aller Kranken nachweisen läßt. Denn E. kommt vorzugsweise bei solchen Individuen vor, welche von Eltern, namentlich Müttern, abstammen, die von der gleichen Krankheit befallen waren, aber auch bei solchen, deren Eltern oder Großeltern an Geisteskrankheiten oder Trunksucht gelitten haben. In manchen Familien leiden zahlreiche Glieder mehrerer Generationen an E. Zuweilen bleibt eine Generation frei davon, und nicht die Kinder der epileptischen Eltern, sondern erst die Enkel werden wieder epileptisch. Herabgekommene und schwächliche Individuen, Säufer und Onanisten erkranken häufiger an der E. als gesunde und kräftige Menschen; allein auch diese bleiben nicht gänzlich davon verschont. Als Gelegenheitsursache zum Ausbruch der E. müssen in erster Linie heftige psychische Erregungen, Schreck, Furcht und namentlich auch der Anblick Epileptischer, genannt werden. In manchen Fällen scheint die E. bedingt zu sein durch gewisse anatomische Veränderungen des Gehirns und seiner Hüllen, z. B. durch Geschwülste, welche auf das verlängerte Mark drücken, durch behindertes Wachstum des Gehirns bei vorzeitiger Verknöcherung der Schädelkapsel. Auch durch den Druck, welchen Geschwülste auf peripherische Nerven ausüben, hat man zuweilen E. entstehen sehen. Endlich können abnorme Erregungszustände der Empfindungsnerven unter Umständen zur E. führen. So kann der Reiz der Eingeweidewürmer oder Reizungszustände der Gebärmutter E. veranlassen.

Die E. besteht aus einzelnen Anfällen oder Paroxysmen. Der Anfall wird bei manchen Kranken regelmäßig oder doch gewöhnlich durch eine sogen. Aura eingeleitet, d. h. der Kranke hat die Empfindung, als ob er angehaucht würde, und diese Empfindung steigt von den Händen oder Füßen nach dem Kopf zu auf und geht sofort in den Anfall selbst über. Häufiger noch leitet ein Gefühl des Kribbelns, der Wärme, der Erstarrung oder eines eigentümlichen Schmerzes an den verschiedensten Körperstellen, welche von da bis zum Gehirn fortschreiten, den Anfall ein. In andern Fällen gehen Zuckungen oder Lähmungen einzelner Glieder (motorische Aura), Halluzinationen, Funken- und Farbensehen, Ohrensausen, Wahrnehmung gewisser Geräusche, Schwindel u. dgl. dem Anfall voraus. Bisweilen läßt sich der Ausbruch eines epileptischen Anfalles verhüten, wenn man die Stelle, an welcher die Aura auftritt, durch ein festes, oberhalb derselben angelegtes Band umschnürt. Den Ausbruch des Anfalles, mag demselben eine Aura vorausgegangen sein oder nicht, bezeichnet gewöhnlich ein greller Schrei, mit welchem der Kranke plötzlich besinnungslos zu Boden stürzt. Er hat fast nie Zeit, sich auf den Fall vorzubereiten, sondern er fällt rücksichtslos, oft an den gefährlichsten Stellen. Daher tragen die Epileptiker nach längerm Bestand der Krankheit fast regelmäßig die Spuren mehr oder minder schwerer Verletzungen an sich. Nach dem Hinstürzen treten gewöhnlich zunächst mehr tonische Muskelkontraktionen, eine Art starrkrampfähnlichen Zustandes, ein, wobei der Kopf rückwärts und seitwärts gezogen, der Mund fest geschlossen, die weit geöffneten Augen nach oben und innen gerollt, der Brustkorb festgestellt und die Atmungsbewegungen zum Stillstand gebracht werden. Nach wenigen Momenten stellen sich aber bereits klonische, d. h. Schüttelkrämpfe ein, welche sich schnell über den ganzen Körper verbreiten. Das Antlitz gerät in lebhafte Bewegung, die Kiefer werden unter Zähneknirschen gewaltsam aufeinander gepreßt und hin- und hergerissen, wobei nicht selten die Zunge verletzt und fast regelmäßig Schaum vor dem Mund gebildet wird. Kopf und Rumpf werden durch die Schüttelkrämpfe hin- und hergeworfen, an den Armen und Beinen wechseln kurz stoßende und schlagende mit drehenden und zuckenden Bewegungen gewaltsamster Art ab. Die Finger sind gewöhnlich gekrümmt und der Daumen fest in die Hand eingeschlagen. Die Atmung ist während des Anfalles schwer gestört, der Herzschlag beschleunigt, der Puls gewöhnlich klein, manchmal unregelmäßig, die Haut mit Schweiß bedeckt, das Gesicht blaurot gefärbt. Oft läßt der Kranke während des Anfalles Stuhlgang und Urin unter sich gehen. Das Bewußtsein ist während der ganzen Dauer des Anfalles so vollständig erloschen, daß der Kranke selbst auf die schmerzhafteste Verletzung durchaus nicht reagiert. Nachdem der Anfall 1-10, höchstens 15 Minuten gedauert hat, erlischt er bald allmählich, bald plötzlich. Sehr oft beschließt eine lange seufzende Ausatmung den Anfall; seltener endet er mit Erbrechen, Aufstoßen, Abgang von Blähungen u. dgl. Gewöhnlich verfallen die Kranken unmittelbar nach dem Anfall in einen tiefen Schlaf mit langsamer und geräuschvoller Atmung. Weckt man sie aus dem Schlaf, so pflegen sie verstört und ängstlich um sich zu blicken und finden sich schwer in ihrer zufälligen Situation zurecht. Ihr einziges Streben geht dahin, daß man sie fortschlafen lasse. Am andern Morgen sind sie zwar noch etwas angegriffen und verdrießlich, können aber ihren gewöhnlichen Verrichtungen wieder nachgehen. Von dem geschilderten Verlauf eines Anfalles kommen zahlreiche Abweichungen vor, welche sich auf die Dauer, die Heftigkeit und die Verbreitung der Schüttelkrämpfe beziehen. Zuweilen sind die Anfälle so leicht, daß die Kranken selbst sie nicht merken und auch die Umgebung nur aufmerksam wird, wenn die Befallenen Gegenstände, die sie gerade in der Hand haben, fallen lassen oder plötzlich in der Rede stocken oder aus den Reden andrer gewisse Bruchstücke nicht gehört haben. Man bezeichnet diese übrigens immer mit Bewußtlosigkeit verbundenen Zustände als "epileptischen Schwindelanfall". Auch andre Störungen treten bei Epileptischen zuweilen als Ersatz (technisch Äquivalent) für einen regulären Anfall ein, wie plötzliche Geistesabwesenheit mit Grimassenschneiden, Verdrehen des Kopfes und der Glieder, Stottern oder dieselbe Bewußtseinsstörung mit traumhaften, impulsiven Handlungen, wie plötzlichem Ergreifen irgend welcher Gegenstände, Fortlaufen unter Wegnahme derselben etc., wodurch die Kranken oft des Diebstahls verdächtig werden (sogen. Kleptomanie). In andern Fällen tritt plötzlicher Schlaf oder während der Nacht plötzliches Aufschrecken und Nachtwandeln ein. Die gesunden Pausen, welche zwischen den einzelnen epileptischen Anfällen liegen, dauern bei manchen Kranken mehrere Jahre, bei andern wochen- und monatelang, während wieder andre Kranke fast täglich einen oder selbst mehrere Anfälle zu erleiden haben. Ein ganz regel-^[folgende Seite]