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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Frauenfrage

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Frauenfrage (weibliche Erwerbsthätigkeit, Frauenstudium).

heirateten. In der Hauptsache wird die soziale Stellung des weiblichen Geschlechts stets bestimmt bleiben durch die Ehe und Familie und durch die Aufgaben, welche der Frau in Rücksicht auf diese erwachsen. Im übrigen trägt die F. bei den untern Ständen einen andern Charakter als bei den mittlern. Sie berührt mehr die städtische Bevölkerung als die ländliche, wo die naturalwirtschaftlichen Verhältnisse zum Teil fortbestehen. In erster Linie ist sie gerichtet auf die Hebung der Erwerbsthätigkeit und Erwerbsfähigkeit, welche hauptsächlich durch eine gründliche Reform der weiblichen Bildung und Erziehung zu bewirken ist. Die Unvollkommenheit der letztern hatte zur Folge, daß die Frauen bisher wegen mangelhafter Beschaffenheit der Leistungen oder aus übergroßer Konkurrenz auf den wenigen Gebieten, auf welche sie angewiesen waren, nur ein unzulängliches Entgelt für ihre Arbeit erhielten. An eine verbesserte allgemeine Schulbildung, welche die Frauen auch mehr für ihren Beruf in der Familie vorzubereiten hätte, muß sich eine fachliche Fortbildung anschließen, um ihnen den Erwerb, wenn sie dessen bedürfen, überhaupt aber die Erfüllung eines eigentlichen Berufs zu erleichtern. Denn auch dann, wenn es nicht der Gewinnung des Lebensunterhalts gilt, haben die Frauen, gleich den Männern, Pflichten gegen die Gesellschaft, und soweit es nicht im Dienste der Familie geschehen kann, sollen sie diese Pflichten in einer andern für ihr Geschlecht geeigneten Weise erfüllen. Erst damit, daß man Anlagen und Fähigkeiten der Frauen in ähnlicher Weise entwickelt wie beim männlichen Geschlecht, zugleich aber das Entgelt für ihre Leistungen ohne Rücksicht auf das Geschlecht bemißt, werden Arbeits- und Erwerbsfreiheit auch für die Frauen ihre volle Bedeutung erlangen. Hand in Hand mit der Bildungs- und Erziehungsreform muß eine Vermehrung der Arbeitsgelegenheit gehen. Zu diesem Behuf gilt es, die bestehenden Vorurteile und Gewohnheiten zu besiegen, welche zur Zeit auf vielen Gebieten der menschlichen Thätigkeit die umfassendere Verwendung weiblicher Arbeitskräfte hindern. Manches ist bereits darin erreicht worden, wie das Beispiel der Verwendung von Frauen für den Post-, Telegraphen- und Eisenbahndienst in vielen Staaten beweist. Eine völlige Gleichstellung der Geschlechter auf allen Arbeitsgebieten kann allerdings nicht das Ziel sein. Denn trotz der gegenteiligen Behauptung Mills u. a. begründet das Geschlecht eine natürliche Verschiedenheit der körperlichen, geistigen und Gemütsanlagen, die Berücksichtigung verdient. Wie die schwere körperliche Arbeit und der Waffendienst, so wird auch die leitende geistige Thätigkeit den Männern stets vorbehalten bleiben. Die genauere Grenzbestimmung aber wird erst durch eine reichere Erfahrung gewonnen und überhaupt nicht mit absoluter Gültigkeit festgestellt werden können. Gegenwärtig erscheinen die Frauen oft selbst noch in solchen Beschäftigungen von den Männern verdrängt, für welche, wie auf dem Gebiet des Elementarunterrichts, der Mädchenerziehung, der Krankenpflege u. a., ihre natürliche Befähigung nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden kann. Indem man die Erziehung verbessert und das Gebiet der weiblichen Wirksamkeit erweitert, wird zugleich die sittliche Würde der Frauen erhöht werden und wird man auf diesem Weg wirksamer als mit bloßen Polizeimaßregeln dem weitern Umsichgreifen der Prostitution steuern. Denn in der materiellen Not der ledigen weiblichen Bevölkerung ruht eine der wichtigsten Ursachen für die bedenkliche Ausbreitung des Übels.

Die Frauenbeschäftigungsfrage brachte für Deutschland im J. 1865 zunächst Präsident Lette in Berlin in Fluß, indem er unter dem Protektorat der Kronprinzessin Viktoria einen Verein zur Förderung der Erwerbsthätigkeit des weiblichen Geschlechts gründete (s. Frauenvereine II). Dieser Verein, später Lette-Verein genannt, hat sich zur Aufgabe gesetzt: 1) Beseitigung der Vorurteile und Hindernisse, die der höhern Bildung und der Erwerbsthätigkeit der Frauen im Weg stehen; 2) Förderung der gewerblichen Ausbildung der Frauen; 3) Arbeitsvermittelung (mit Ausschluß der niedern Dienstverrichtungen); 4) Einrichtung von Verkaufsstellen für Frauenarbeiten; 5) Schutz selbständig beschäftigter Frauen gegen sittliche und wirtschaftliche Schäden. Eine Frucht des Lette-Vereins ist die Handels-, Gewerbe- und Zeichenschule für Frauen und Töchter in Berlin. Sodann rief Frau Luise Otto-Peters in Leipzig den Allgemeinen deutschen Frauenverein ins Leben. 1866 ward in Berlin der Viktoria-Bazar als ein Verkaufslokal für Frauenarbeiten gegründet. Die erste Gewerbeschule für das weibliche Geschlecht schuf Direktor Nöggerath in Brieg; eine ähnliche wurde in Hamburg unter Frau Wüstenfeld sowie ein Paulson-Stift für das weibliche Geschlecht eingerichtet; in Prag rief Professor C. Th. Richter eine Handelsschule für dasselbe ins Leben, während in Leipzig seit 1863 die Lehranstalt für erwachsene Töchter zur Ausbildung für den kaufmännischen Geschäfts- und Gewerbebetrieb besteht. Auch in München, Nürnberg, Stuttgart, Darmstadt gibt es solche Institute.

[Frauenstudium. Politische Gleichstellung.] Einen besondern Teil der weiblichen Erziehungsfrage bildet die Frage, ob Frauen zum Studium der Wissenschaften zuzulassen seien. Die übrigens schwer zu begründende Behauptung der Gegner des Frauenstudiums, daß dem weiblichen Geschlecht die Befähigung zur selbständigen wissenschaftlichen Forschung abgehe, kann nicht als entscheidend gelten. Der weit überwiegenden Mehrzahl der Studierenden dient der wissenschaftliche Universitätsunterricht nur als Vorbereitung für die höhern praktischen Berufsfächer, und daß auch Frauen den Anforderungen des sogen. Brotstudiums entsprechen können, hat die Erfahrung genügend gezeigt. In der That haben nicht wenige Frauen in der Pflege der Wissenschaften bereits Hervorragendes geleistet. Das griechische Altertum kannte einzelne Ärztinnen und brachte noch zum Schluß in Alexandria die berühmte, 415 v. Chr. vom Pöbel ermordete Philosophin Hypatia hervor. Berühmt als Dichterin in lateinischer Sprache ist die sächsische Nonne Hroswitha (gest. 967) in Gandersheim. Italien hatte seine gelehrten Frauen im Mittelalter und vorzüglich in der Zeit des Humanismus. Auch in Deutschland weist namentlich das Jahrhundert von 1750 bis 1850 eine stattliche Reihe weiblicher Doktoren in der medizinischen u. philosophischen Fakultät und andre gelehrte Frauen auf, unter denen Christiane Erxleben, geborne Leporin (1754), welche auch eine "Gründliche Untersuchung der Ursachen, welche das weibliche Geschlecht vom Studio der Medizin abhalten" geschrieben hat, Christiane Dilthey, spätere Frau Büsching (1755), Dorothea Schlözer, spätere Frau Rodde (1787), Karoline Herschel sowie Mutter und Tochter v. Siebold (1815 u. 1817) besonders bekannt sind. Wie weit Frauen zum Universitätsstudium zuzulassen seien, ist deshalb vielmehr davon abhängig zu machen, wie weit die Ausübung der höhern Berufsarten als vereinbar mit dem Naturell und der Leistungsfähigkeit der Frauen sowie mit den tiefer begründeten sittlichen