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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Frauenfrage

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Frauenfrage (geschichtliche Entwickelung).

auf dem Gebiet der F. geleistet hat, während die andern Regierungen bisher eine völlige Zurückhaltung bewiesen haben. Die romanischen, noch mehr die slawischen Völker stehen den germanischen erheblich nach. Selbst Frankreich, wo doch die ganze Bewegung ihren Ausgangspunkt fand, hat für die Lösung der Frage wenig geleistet.

In mancher Beziehung anders als in Europa liegen die Verhältnisse in Nordamerika, wo seit der Mitte dieses Jahrhunderts die Frage ebenfalls im Fluß ist. Hier war die Lage der Frau von jeher eine begünstigte. Der Umstand, daß die weibliche Bevölkerung früher allgemein in der Minderzahl gegenüber der männlichen war, führte zu einer hochentwickelten Frauenverehrung. In Verbindung mit den dort herrschenden rationalistisch-demokratischen Anschauungen und Lebensformen und im Zusammenhang mit dem allgemein verbreiteten Wohlstand des Landes sicherte dieselbe den ledigen wie den verehelichten Frauen von vornherein eine freiere und selbständigere Stellung als bei den Völkern alter Kultur, befreite sie von der Last der niedrigen Tagesarbeit oder erleichterte ihnen im andern Fall den selbständigen Erwerb. Bilden doch dort unter den öffentlichen Lehrern die Frauen als Lehrerinnen mit mehr als zwei Dritteilen die Mehrheit. Auch zu andern öffentlichen Ämtern sind sie berechtigt. In den Bundesverwaltungs-Departements zu Washington sind mindestens 1300 Frauen als Beamte mit Gehalten von 900-1800 Dollar angestellt. Infolgedessen hat sich die Frauenbewegung hier mehr als irgendwo darauf gerichtet, den Frauen im öffentlichen Leben vermehrte Rechte zu erwerben. In einigen Staaten der Union wurde ihnen das Stimmrecht eingeräumt, während von seiten der Bundesregierung ihnen dasselbe noch versagt blieb. Ein Hauptargument, mit dem die amerikanischen Frauen ihren Anspruch auf Wahlrecht begründen, und das auch von der im J. 1870 in Washington erschienenen weiblichen Deputation verwertet wurde, bildet das Stimmrecht der Neger. Sie empfinden es als eine Zurücksetzung, daß man ihnen versagt, was man einer tiefer stehenden Rasse eingeräumt hat.

Hervorgegangen aus dem Geiste der modernen Zeit, welche jedem Einzelnen das gleiche Recht zusprach und ihn mit dem Verlangen erfüllte, seine Individualität frei und ungehindert zu entfalten, schöpft die Frauenbewegung ihre nachhaltige Kraft aus ihrem zugleich wirtschaftlichen Charakter. Im Lauf der Zeit hatte die Stellung der Frauen in der Volkswirtschaft wesentliche Änderungen erfahren. Während des ganzen Mittelalters und noch in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit lag beim Vorherrschen der Naturalwirtschaft der Schwerpunkt der Produktion im Familienhaushalt. Nicht nur die Rohprodukte des Ackerbaues wurden von der Familie selbst gewonnen, sondern auch die später von ihr losgelösten gewerblichen Thätigkeiten, z. B. das Bauen, Schlachten, Spinnen, Weben etc., in der Hauptsache dort verrichtet. Dabei bildete das städtische Leben keinen so vollständigen Gegensatz zum ländlichen wie heute. Denn auch die Wirtschaften selbst größerer Städte beruhten meist auf dem Betrieb des Landbaues. Hierdurch war nicht nur reiche Gelegenheit, sondern auch die dringende Notwendigkeit gegeben, weibliche Arbeitskräfte in umfassenderm Maß innerhalb der Hauswirtschaft zu verwenden. Den ledig Gebliebenen, namentlich der bessern Stände, bot sich außerdem vielfach Unterkunft in den zahlreichen Klöstern, auch war durch Legate, Stiftungen u. dgl. in reichem Maß für sie gesorgt. Mit der zunehmenden Entwickelung der Arbeitsteilung und der Entstehung der modernen, auf der Anwendung von Maschinen und Dampfkraft beruhenden Industrie wurde die ursprüngliche Wirtschaftsverfassung nach und nach gelockert und die Produktion, indem sie für den Absatz arbeitete, mehr und mehr aus den Fesseln der Hauswirtschaft gelöst. In dem Maß aber, wie sie sich der ursprünglich hauswirtschaftlichen Arbeitszweige bemächtigte, ging den Frauen die einst in der Familie gebotene Arbeitsgelegenheit verloren. Teilweise fand sich Ersatz für das Verlorne. Waren die Frauen unter der Herrschaft der Zünfte von der gewerblichen Arbeit ausgeschlossen gewesen, so erzeugte die moderne Großindustrie die Möglichkeit einer umfangreichen Verwendung ungelernter und schwächerer und damit billigerer Kräfte. Letztere boten sich außer in den Kindern in den Frauen, deren Erwerbsarbeit, weil ursprünglich nur als Nebenbeschäftigung verrichtet, bei verhältnismäßig starkem Angebot daher niedriger gewertet wurde und ihren niedrigen Preis traditionell auch ferner behielt. Die weiblichen Arbeiter aber, welche nunmehr in die Fabriken eilten oder daheim für die Unternehmer sich beschäftigen ließen, gehörten ausschließlich den untern Schichten des Volkes an. Ihnen gegenüber erwuchs dem Staate die Aufgabe, eine verderbliche Ausnutzung ihrer Arbeitskraft, welche oft genug Gesundheit und Sittlichkeit aufs schlimmste gefährdete, zu verhindern, indem er die von ihnen zu leistende Arbeit nach Maß und Art begrenzte. Diese Aufgabe suchten die industriellen Staaten in der Fabrikgesetzgebung zu lösen, doch ist ihnen dies bisher nur in sehr unvollkommener Weise gelungen. Vgl. hierüber Fabrikgesetzgebung; ferner Jules Simon, L'ouvrière (2. Aufl., Par. 1861), und die "Ergebnisse der über die Frauenarbeit in den Fabriken auf Beschluß des Bundesrats angestellten Erhebungen" (Berl. 1877).

Anders als bei der eigentlichen Arbeiterbevölkerung gestalteten sich die Verhältnisse in derjenigen Gesellschaftsschicht, welche mit dem Beamtentum und den stehenden Heeren erstand. Einerseits bewirkte hier die wachsende Schwierigkeit, die zur Gründung und Erhaltung einer Familie erforderlichen Mittel zu gewinnen, eine abnehmende Heiratsfrequenz, deren nachteilige Wirkungen die Töchter vermögensloser Familien um so mehr empfanden, als sie kraft der herrschenden Standesanschauungen sich für die Ehe auf gewisse engere Kreise beschränkt sahen. In den protestantischen Staaten verschlimmerte sich die Lage des weiblichen Geschlechts weiter durch die Aufhebung der Klöster. Anderseits verboten hier die herrschenden Vorurteile den ledigen Frauen, sich durch Anteilnahme am öffentlichen Erwerbsleben selbständigen Unterhalt zu schaffen. In diesen Kreisen sah man den einzigen und natürlichen Beruf der Frau darin, Mutter und Gattin zu sein, so daß die ehelose Existenz als beklagenswert, weil ohne Lebenszweck, erscheinen mußte. Hierdurch wurde nicht nur die sittliche Auffassung der Ehe beeinträchtigt, indem sie oft nur als Versorgungsmittel betrachtet wurde, sondern es litt auch darunter die weibliche Erziehung, die neben der männlichen stark vernachlässigt blieb. So erwuchs in den ledigen Frauen dieser Stände eine ansehnliche Bevölkerungsmasse, die durch Anschauungen und Erziehung darauf angewiesen war, von der Arbeit andrer mitzuleben, und daher überwiegend dem Elend einer unselbständigen, dem Zufall preisgegebenen Existenz verfallen war.

Die F. betrifft danach vorzugsweise die Unver-^[folgende Seite]