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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Freihandel

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Freihandel (Bestrebungen in den einzelnen Staaten).

schränkungen in der freien Wahl des Berufs und der beliebigen Verwertung von Arbeits- und Kapitalkräften durch Zunftverfassung, Privilegien, Monopole, Konzessionswesen, Auflegung von Maximalsätzen (Taxen) für Warenpreise und Arbeitslöhne, Wuchergesetze, Luxusverbote u. dgl. In ihrer extremen, aber in der Wirklichkeit in solchem Umfang noch nie und nirgends praktisch gewordenen Ausgestaltung beruht diese Freihandelslehre auf einer rein individualistischen Auffassung aller volkswirtschaftlichen Verhältnisse. Nach dieser am konsequentesten von John Prince-Smith vertretenen Auffassung soll alles wirtschaftliche Getriebe aus freier individueller Thätigkeit und aus der von freien Vereinigungen entspringen. Organ der Volkswirtschaft ist der Markt, auf welchem sich die Interessen berühren und die Kräfte messen. Bei freier Konkurrenz werden die Kapitalien und Kräfte richtig verteilt und am vollständigsten ausgewertet, die Preise immer eine angemessene, den Verhältnissen entsprechende Höhe, die Gewinne ein gleiches Maß behaupten. Die Verteilung des Einkommens erfolgt nach Maßgabe der Leistung, ist demnach auch gerecht. Der Staat soll keine produktiven Unternehmungen treiben, den Markt nicht beeinflussen, mithin "die Naturgesetze des Verkehrs" frei walten lassen. Ihm komme keine andre Aufgabe zu als die Produktion von Sicherheit. Forderungen dieser Lehre sind also: persönliche Freiheit, Freizügigkeit, Freiheit in der Wahl und im Betrieb von Gewerben, im Erwerb und Besitz von Vermögen, in Bestimmung von Preis, Zins, Lohn, in der Festsetzung des Arbeitsvertrags überhaupt im ganzen Gebiet von Produktion, Verkehr und Haushalt. Die heutigen Freihandelsideen führen ihren Ursprung zurück auf das physiokratische System, dessen Forderungen als eine Reaktion gegen die damaligen feudalistischen und polizeilichen Einschnürungen und Beschränkungen zu betrachten sind, und das im Gegensatz zu den seitherigen künstlichen Gestaltungen der Volkswirtschaft die "natürliche Ordnung" von Wirtschaft und Verkehr wiederhergestellt wissen wollte. Die Forderungen der Physiokraten wurden großenteils durch die französische Revolution verwirklicht. Andre Staaten folgten später unter dem Druck der Not, der sich mehr und mehr verbreitenden Idee des allgemein gleichen Staatsbürgertums sowie der modernen Gestaltung von Verkehr und Technik wenigstens bis zu gewissen Grenzen auf der von Frankreich vorgezeichneten Bahn. Die Freihandelsideen des physiokratischen Systems fanden einen hervorragenden Vertreter in Adam Smith (s. d.), dessen Lehren in englischen, vorzüglich aber in deutschen Gelehrten- und Beamtenkreisen auf einen fruchtbaren Boden fielen. An der Königsberger Universität von Ch. J. ^[Christian Jakob] Kraus, dann von J. G. ^[Johann Gottfried] Hoffmann und K. H. Hagen vorgetragen, ferner von Rau, Roscher u. a. in ihren Hauptgrundzügen weiter verbreitet, schlugen diese Ideen im deutschen Beamtentum kräftige Wurzeln. Dann fanden sie im Bürgertum, insbesondere in dem des deutschen Nordens, eine starke Stütze.

In der Praxis machten sich die freihändlerischen Ideen immer dann geltend, wenn herrschende Gegenströmungen zu bekämpfen, vorhandene Schranken zu beseitigen waren. Infolgedessen nahmen die freihändlerischen Bestrebungen, auch wo sie nicht in extremer Ausbildung aufgetreten sind, einen vorzüglich negativen Charakter an. Die Notwendigkeit des Kampfes führte naturgemäß zur Parteibildung mit Programmaufstellung. Eine solche Freihandelspartei bildete sich in den 20er Jahren in England, nachdem bereits 1820 Londoner Kaufleute eine entsprechende Petition bei dem Parlament eingereicht hatten. Das Programm dieser Partei wurde von Huskisson 17. Mai 1826 im Parlament verkündet. Eine echte Freihandelspartei, wenn auch anfangs mit beschränktem Gebiet ihrer Wirksamkeit, war auch die Anti-cornlaw-league (s. d.), deren hervorragendere Mitglieder, wie Cobden, Bright u. a., übrigens auch auf andern Gebieten und nach Auflösung jener Verbindung in freihändlerischem Sinn wirkten. Nachdem unter dem Ansturm der Vertreter der hoch entwickelten Industrie und des Handels die Korngesetze gefallen und 1849 der letzte Rest der Navigationsakte beseitigt worden war, führte 1860 der englisch-französische Handelsvertrag zu einer vollständigen Aufhebung der noch bis dahin bestehen gebliebenen Schutzzölle. In Frankreich dagegen haben sich von je nur vereinzelte Stimmen aus den Kreisen der Praktiker für Abschaffung aller Schutzzölle erhoben. Der Übergang zu einer gemäßigtern Handelspolitik, welcher seit 1860 erfolgte, war das eigenste Werk von Napoleon III., dessen Maßregeln auf großen Widerstand stießen. Die von ihm abgeschlossenen Handelsverträge, zumal da die Klausel der Meistbegünstigung in dieselben aufgenommen wurde, führten mehr und mehr zu Handelserleichterungen. Nach 1870 schlug die französische Handelspolitik unter dem Druck der Finanzlage des Staats wieder eine von Thiers besonders begünstigte protektionistische Richtung ein, die sich auch im Tarif vom 7. Mai 1881 sowie in den seither aufgestellten Konventionaltarifen behauptet hat. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist die Handelspolitik stets ein Gegenstand heftigen Streits zwischen den Nord- und den Südstaaten. Der industrielle Norden war mehr dem Zollschutz, der Süden dagegen dem F. geneigt. Nach mehrfachen Tarifänderungen führte der Sieg der nördlichen Staaten nach dem Bürgerkrieg auch zu einem Sieg der Protektionismen, welche nun zu gunsten ihrer Forderungen auf die Notwendigkeit hinweisen konnten, der Union größere Einnahmen zuzuführen. Auch Rußlands Zollpolitik ist eine hoch schutzzöllnerische. Andre europäische Staaten, wie insbesondere Österreich-Ungarn, dem von Frankreich und 1879 von Deutschland gegebenen Beispiel folgend, haben in der letzten Zeit eine mehr protektionistische Richtung eingeschlagen.

Im Norden Deutschlands fand der F. schon frühzeitig eine entschiedene Vertretung in den Hansestädten, dann in dem preußischen Beamtentum. Eine weitere Stütze fanden die freihändlerischen Ideen in den Bestrebungen zur Bildung und Entwickelung des Zollvereins, in welchem Preußen, das bereits 26. Mai 1818 einen liberalen Zolltarif aufgestellt hatte, an den Grundsätzen desselben festzuhalten suchte. Als nun in den Jahren 1842-46 der Zolltarif mehr in protektionistischem Sinn umgebildet wurde, entstand auch sofort auf Anregung von John Prince-Smith ein eigner Freihandelsverein, der eine lebhafte Thätigkeit entfaltete. Die Forderungen desselben wurden in einem Teil der Tagespresse, wie in der "Ostseezeitung" (frühere "Börsennachrichten der Ostsee") unter der Redaktion von J. ^[Julius] Faucher, in der "Kölnischen Zeitung" unter Brüggemann u. a., wirksam vertreten. Als wissenschaftliches Organ dieser Richtung diente das "Bremer Handelsblatt", später auch die "Vierteljahrsschrift für Volkswirtschaft und Kulturgeschichte" (früher von Faucher, jetzt von E. Wiß redigiert). Einen wichtigen Mittelpunkt fand dieselbe in dem 1858 ins Leben gerufenen volks-^[folgende Seite]