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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gagern

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Gagern.

durch engen Anschluß an England und Österreich die Vergrößerung des neuen Königreichs der Niederlande durch die belgischen Provinzen und die Begründung eines oranischen Mittelstaats zwischen Preußen und Frankreich, den er auch bis 1818 als Gesandter beim deutschen Bundestag vertrat. Wie er schon beim Ausbruch der französischen Revolution das Berechtigte an derselben anerkannt hatte, so drang er auch jetzt auf Ausführung von Maßregeln, welche die wahre politische Einheit und Freiheit der deutschen Nation feststellen könnten, und forderte in allen seinen Voten die Einführung landständischer Verfassungen in den deutschen Bundesstaaten. 1820 pensioniert, privatisierte er auf seinem Gut Hornau bei Höchst im Hessen-Darmstädtischen, mit litterarischen Arbeiten beschäftigt über die Vergangenheit und Zukunft unsrer Nation und mit den erleuchtetsten Zeitgenossen in lebhaftem schriftlichen Verkehr stehend. Gleichzeitig hatte er reichlich Gelegenheit, als lebenslängliches Mitglied der Ersten Kammer des Großherzogtums Hessen die Aufmerksamkeit der Regierung und der Stände auf patriotische und philanthropische Fragen zu lenken. Bis 1847 verging kaum eine Session der Stände, in der nicht G. zu gunsten des Volkes einen Antrag gestellt hätte. Obwohl er die Idee einer Volksvertretung am Bundestag früher stets von sich gewiesen hatte, begrüßte er doch das Frankfurter Parlament mit Freuden und den besten Hoffnungen. Er starb jedoch, ohne diese Hoffnungen erfüllt zu sehen, 22. Okt. 1852. Von seinen Schriften sind außer seinen autobiographischen Denkwürdigkeiten ("Mein Anteil an der Politik", Bd. 1-4, Stuttg. 1822-33; Bd. 5 u. 6., Leipz. 1845), die ein lebendiges Bild der Napoleonischen Zeit und der diplomatischen Lage während der Freiheitskriege liefern, hervorzuheben: "Die Resultate der Sittengeschichte" (6 Bde., Bd. 1: "Die Fürsten", Frankf. 1808; Bd. 2: "Aristokratie", Wien 1812; Bd. 3: "Demokratie", Frankf. 1816; Bd. 4: "Politik", Stuttg. 1818; Bd. 5 u. 6: "Freundschaft und Liebe", das. 1822; Bd. 7: "Zivilisation", 1. Teil, Leipz. 1847; 2. Aufl., Bd. 1-4, Stuttg. 1835-1837); "Die Nationalgeschichte der Deutschen" (Wien 1813-26, 2 Bde.; 2. Aufl., Frankf. 1825-26); "Kritik des Völkerrechts mit praktischer Anwendung auf unsre Zeit" (das. 1840). Vgl. v. Treitschke, Historische und politische Aufsätze, Bd. 1 (Leipz. 1871).

2) Friedrich Balduin, Freiherr von, niederländ. General, ältester Sohn des vorigen, geb. 24. Okt. 1794 zu Weilburg, bezog 1810 die Universität Göttingen, mußte aber dieselbe 1812 wegen mehrerer Duelle verlassen, trat, nachdem er sich in der Pariser École polytechnique eine ausgezeichnete mathematische Bildung erworben, ins österreichische Heer ein, nahm am Feldzug gegen Rußland teil und focht 1813 in den Schlachten bei Dresden, Kulm und Leipzig. Dem Wunsch seines Vaters gemäß vertauschte er dann die österreichischen Dienste mit den niederländischen und kämpfte mit Auszeichnung in den Schlachten von 1815. Nach dem Friedensschluß nahm er zu Heidelberg seine Studien wieder auf, um dann in die militärischen Dienste des Königreichs der Niederlande zurückzukehren. Als Generalstabsoffizier war er 1824 und 1825 der Bundesmilitärkommission beigegeben und hatte späterhin (1831) als Major und Chef des Generalstabs des Herzogs Bernhard von Weimar rühmlichen Anteil an den vorübergehenden Erfolgen der Holländer gegen Belgien. 1838 ward er Kommandeur eines Dragonerregiments, begleitete 1839 den Prinzen Alexander auf dessen Reise nach Rußland und erhielt, nachdem er 1844 zum General avanciert war, eine wichtige Mission nach Ostindien, dessen holländische und großbritannische Kolonialwelt er während eines zweijährigen Aufenthalts gründlich studierte. Nach seiner Rückkehr (1847) wurde er Gouverneur der Residenz und Provinzialkommandant von Südholland. Im Frühjahr 1848 nahm G. Urlaub zu einer Reise nach Deutschland. Es war eben im badischen Seekreis der Heckersche Aufstand ausgebrochen, und G. übernahm, ohne die nachgesuchte Genehmigung der niederländischen Regierung abzuwarten, unter Vermittelung der obersten deutschen Zentralbehörde den von Baden ihm angetragenen Oberbefehl gegen die Heckerschen Freischaren. Vergebens suchte er, als er bei Kandern 20. April auf dieselben stieß, die Führer zum Niederlegen der Waffen zu bewegen. Nachdem eine Unterredung mit Hecker auf der Brücke von Kandern keinen Erfolg gehabt, trafen eine halbe Stunde später beide Teile an der sogen. Scheideck hart aufeinander. Auf den Ruf aus den Reihen der Freischaren: "General vor!" ging G. vor, ohne daß es ihm jedoch gelang, dieselben zur Niederlegung der Waffen zu vermögen. Er stieg wieder zu Pferd und war im Begriff, zum Angriff zu kommandieren, als ihn eine Salve der Insurgenten niederstreckte. 1851 ward ihm an derselben Stelle, wo er fiel, ein Denkmal errichtet. Vgl. Heinrich von G., Das Leben des Generals Friedrich von G. (Leipz. 1856-57, 3 Bde.).

3) Heinrich Wilhelm August, Freiherr von, deutscher Staatsmann, Bruder des vorigen, geb. 20. Aug. 1799 zu Baireuth, besuchte 1812-14 die Militärschule in München und focht als nassau-weilburgischer Offizier 1815 in der Schlacht bei Waterloo. Nach dem Frieden studierte er die Rechte in Heidelberg, wo er die deutsche Burschenschaft mit begründete, Göttingen, Jena und in Genf, ward 1821 Landgerichtsassessor in Lorsch, 1824 Regierungsassessor und 1829 Regierungsrat in Darmstadt. In seiner 1827 erschienenen Broschüre "Über die Verlängerung der Finanzperioden u. Gesetzgebungslandtage" bekämpfte er mit Erfolg den Antrag auf Verwandlung der dreijährigen in sechsjährige Finanzperioden. 1832 ward er zum Beamten im Ministerium des Innern und der Justiz befördert und für Lorsch in die Zweite Kammer gewählt, infolge seiner liberalen Haltung nach Auflösung des Landtags aber pensioniert. G. verzichtete auf die Pension, machte sich durch Ankauf von liegenden Gütern wieder wahlfähig und kam darauf wiederholt in die Kammer, wo er die gefährdeten Rechtsinstitutionen der Provinz Rheinhessen energisch verteidigte. Als die Bewegung von 1848 begann, nahm er 5. März zu Heidelberg an der Beratung über die Berufung eines Vorparlaments teil, ward aber noch an demselben Tag an die Spitze des neugebildeten liberalen Ministeriums berufen, verließ indes diesen Posten bald wieder, um in das Vorparlament zu Frankfurt einzutreten. Von zwei Wahlbezirken des Großherzogtums Hessen in die Nationalversammlung gewählt, ward er 19. Mai zum Präsidenten derselben ernannt. Seine Amtsführung als Präsident der Versammlung fand allgemeine Anerkennung. Daß die Nationalversammlung bei Einsetzung der provisorischen Zentralgewalt das konstitutionelle Prinzip der Neugestaltung Deutschlands zu Grunde legte und dadurch das Fortbestehen der Monarchie sicherte, war Gagerns Werk. Als eine Verständigung mit den Regierungen über eine definitive Ordnung der Dinge immer schwieriger wurde, beantragte G., vermittelst eines "kühnen Griffs" die provisorische Zentralgewalt einem verantwortlichen Reichsverweser zu über-^[folgende Seite]