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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gefängniswesen

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Gefängniswesen (Geschichtliches).

diejenigen Veranstaltungen, welche zur Festhaltung von Kriegsgefangenen getroffen werden, im weitesten Sinn zu den Gefängnisanstalten rechnen kann. Obwohl ursprünglich der Name eines Gefangenen gerade aus der Thatsache der kriegerischen Gewalt entnommen ist, so denkt man bei der Seltenheit der Kriege gegenwärtig nicht mehr an diese gelegentliche und vorübergehende Zweckbestimmung; wohl aber waren noch im Mittelalter, zusammenhängend mit dem Fehdewesen, weitaus die meisten Burgkerker und Burgverliese als Gefängnisse gegen den entwaffneten Feind eingerichtet. 2) Zum Zweck des Zwanges gegen widerwillige oder unvermögende Schuldner dienten die Schuldgefängnisse. Dieselben haben jedoch überall, wo die persönliche Schuldhaft als Exekutionsmittel beseitigt worden ist (Frankreich 1867, Deutschland 1868, bez. 1871, Österreich 1868, England 1869, Belgien 1871), ihre Bedeutung eingebüßt. 3) Zum Zweck der vorläufigen Haftnahme verdächtiger Personen dienen die nur für vorübergehende Einsperrung bestimmten sogen. Polizeigefängnisse oder Arresthäuser. 4) Zum Zweck der Sicherstellung des Strafverfahrens gegen den Angeschuldigten, Verdächtigen oder Angeklagten dienen die Untersuchungsgefängnisse, welche regelmäßig als ein Zubehör der Kriminalgerichte erscheinen. Da nach dem Grundzweck des Kriminalverfahrens die persönliche Freiheit nicht verurteilter Personen nur für kürzere Zeit, und soweit dies unumgänglich nötig ist, beschränkt werden darf, sind die Untersuchungsgefängnisse gleichfalls nicht für längern Verbleib der Inhaftierten eingerichtet. Als Grundsatz gilt, daß Untersuchungsgefangene niemals mit Strafgefangenen in denselben Räumen verwahrt werden sollen, und daß ihre Freiheit nur so weit einzuschränken ist, als dieses der Zweck der Voruntersuchung notwendig macht. So darf ihnen z. B. Selbstbeköstigung und Lektüre nicht entzogen, der Gefangene darf ohne Not nicht gefesselt werden, es ist ihm der Verkehr mit seinem Verteidiger zu gestatten etc. Die Untersuchungshaft kann in Deutschland vom Richter bei Erkennung der Freiheitsstrafe ganz oder teilweise in Anrechnung gebracht werden. 5) Zum Zweck der Bestrafung rechtskräftig verurteilter Personen dienen die Strafgefängnisse oder Strafanstalten.

Weitaus die größte Zahl der Gefängnisse sind heute Strafgefängnisse. Sie sind verhältnismäßig modernen Ursprungs und stehen im geschichtlichen Zusammenhang mit dem Aufkommen der Freiheitsstrafe als des seitdem Ende des vorigen Jahrhunderts üblich gewordenen Hauptstrafmittels. Dem Altertum waren zwar Untersuchung- und Schuldgefängnisse, keineswegs aber Strafgefängnisanstalten bekannt, welche mit den heutigen Einrichtungen irgendwie verglichen werden könnten. Bis in das 16. Jahrh. hinein findet sich überall nur eine gelegentliche Erwähnung von Freiheits- und Gefängnisstrafen außerhalb der dem römischen Recht bereits bekannten Zwangsarbeits- und Verbannungsstrafe. Für geringe Verstöße gegen die gesetzliche Ordnung blieb nichts übrig als die Anwendung von Geldbußen oder körperlicher Züchtigung. Doch paßte die erstere nicht für Zahlungsunfähige, letztere blieb erfahrungsmäßig meist wirkungslos. Schon aus dem Mittelalter war eine Klasse von Missethätern auf die nachfolgenden Jahrhunderte vererbt worden: fahrende Leute als Bettler, Landstreicher, Gauner. Gerade gegen diese Klasse war man eines bessern Schutzes bedürftig. So entstanden mit Erstarkung der Polizeigewalt seit dem Ende des 16. Jahrh. die Zuchthäuser oder Besserungsanstalten. In Deutschland ließ, da von Reichs wegen nichts geschehen konnte, die Landeshoheit sich die Einrichtung der Zuchthäuser angelegen sein. Lübeck (1613) und Hamburg (1618) scheinen zuerst das in Amsterdam gegebene Beispiel (1595) nachgeahmt zu haben. Von den Hansestädten aus verbreiteten sich die Zuchthäuser über Mittel- und Süddeutschland, nachdem der Dreißigjährige Krieg die Zahl der Landstreicher gewaltig vermehrt hatte. Neben den Zuchthäusern, welche nur auf die minder schweren, polizeilich zu behandelnden Gesetzwidrigkeiten Anwendung finden sollten, bildeten sich allmählich, aus der Nachahmung der südländischen Galeerenstrafe hervorgegangen und auf bauliche Zwecke berechnet, die Ketten- und Karrenstrafe und dann die Festungsstrafe. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts waren Strafanstalten unter mannigfachen Bezeichnungen bereits über Europa verbreitet. Über ihren überaus mangelhaften Zustand berichtete die Schrift des Engländers Howard: "Über den Zustand der Gefängnisse in England und Wales, mit einleitenden Bemerkungen und einem Bericht von einigen fremden Gefängnissen" (1777; deutsch von Köster, 1780), welche durch ihre herzergreifende Schilderung des jammervollen Gefängnislebens großes Aufsehen erregte und auch zur Reform des Gefängniswesens Anlaß gab. Seit dieser Zeit ist die Bedeutung des Gefängniswesens dadurch gewachsen, daß gänzlich veränderte Begriffe von der Aufgabe der Strafrechtspflege in der Gesetzgebung zur Geltung gelangten, zahlreiche früher üblich gewesene Strafmittel abgeschafft wurden, insbesondere aber die Todesstrafe entweder gänzlich aufhörte, oder doch auf eine geringere Zahl von Missethaten Anwendung fand. Die Freiheitsstrafen sind gegenwärtig überall zur Hauptstrafe des Kriminalrechts geworden. Außerdem lernte man seit Howard begreifen, daß eine fehlerhafte Einrichtung der Gefängnisse gleichsam eine Selbstbestrafung der Gesellschaft zur Folge hat. Die Verwaltung der Strafanstalten wurde vereinfacht, die Zahl der verschiedenen Freiheitsstrafarten vermindert und die Gefängnisse den heutigen Gesellschaftszuständen mehr angepaßt.

Vor 1870 bestanden in Deutschland vier Hauptgattungen von Strafanstalten: 1) Zuchthäuser, die aus polizeilichen Besserungsanstalten nach und nach zu Strafhäusern für die schwersten Verbrecher umgewandelt worden waren; 2) Arbeitshäuser zur Vollstreckung der in einzelnen deutschen Staaten ehemals gesetzlich verordneten Arbeitshausstrafen; 3) Festungshaft und 4) Gefängnisse im engern Sinn. Die gegenwärtige Einrichtung des Gefängniswesens ist folgende. Die Anstalten, in denen Freiheitsstrafen vollzogen werden, unterscheiden sich: Mit Rücksicht auf die gesetzliche Abstufung der Freiheitsstrafen. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch unterscheidet: 1) Zuchthausstrafe, welche teils lebenslänglich, teils zeitig (mindestens 1 Jahr, höchstens 15) erkannt werden kann. Mit gewissen Ehrenfolgen (z. B. Unfähigkeit zum Heerdienst) verbunden, fordert die Zuchthausstrafe notwendig den Arbeitszwang; die Verurteilten werden zu den in der Strafanstalt eingeführten Arbeiten innerhalb wie außerhalb derselben angehalten. 2) Gefängnisstrafe, welche, von Ausnahmen abgesehen, für den Zeitraum von 1 Tag bis zu 5 Jahren erkannt werden kann. Die Verurteilten können nach dem Ermessen der vollstreckenden Behörde (außerhalb der Anstalt jedoch nur mit ihrer Zustimmung) und müssen auf ihr Verlangen auf eine ihren Fähigkeiten entsprechende Weise beschäftigt werden. 3) Festungshaft (lebenslänglich oder zeitig, von 1 Tag bis zu 15 Jahren), bestehend in Freiheits-^[folgende Seite]