Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gefängniswesen

997

Gefängniswesen (Vorsorge für Gesundheit, Disziplin, Beschäftigung der Gefangenen).

entziehung mit Beaufsichtigung der Beschäftigung und Lebensweise der Verurteilten. Die Vollstreckung erfolgt entweder in Festungen oder in andern dazu bestimmten Räumen. 4) Haft, für eine Zeitfrist von höchstens sechs Wochen und mindestens einem Tag, bestehend in einfacher Freiheitsentziehung. Die Bezeichnungen für diejenigen Anstalten, in denen die Gefängnisstrafe oder die Haft vollstreckt wird, sind in den einzelnen deutschen Ländern verschieden. Außer den für die Vollstreckung einer richterlich erkannten Strafe bestimmten Anstalten bestehen: 5) Untersuchungsgefängnisse und 6) Polizeiliche Korrektionsanstalten (vgl. Arbeitshäuser), in welchen auf Grund des § 362 gewisse Personen nach verbüßter Strafe durch die Landespolizeibehörde untergebracht werden können (Bettler, Landstreicher, Prostituierte). Verschiedene Strafarten, z. B. Gefängnis und Haft, können in verschiedenen Abteilungen und Räumlichkeiten eines und desselben Gebäudes vollstreckt werden. II. Mit Rücksicht auf die bürgerliche Stellung der Verurteilten. Hiernach sind die Anstalten für militärische Personen (Arrest etc.) gesondert von denjenigen für nicht militärische Verbrecher. Das Strafgesetzbuch für das deutsche Heer enthält die nähern Bestimmungen. III. Mit Rücksicht auf das Geschlecht der Verurteilten. Weiber und Männer sind überall getrennt zu halten, wobei es der Verwaltung überlassen bleibt, entweder eigne Gefängnisse für Weiber zu bestimmen, oder für die räumliche Trennung der Geschlechter innerhalb eines und desselben Gebäudes Sorge zu tragen. IV. Mit Rücksicht auf das Lebensalter der Verurteilten. Das Gesetz verbietet ausdrücklich die Gemeinschaft jugendlicher Personen im Alter unter 18 Jahren mit ältern Delinquenten und erlaubt außerdem, daß jugendliche Verbrecher, wenn sie wegen mangelnder Einsicht freigesprochen sind, durch den Richter einer Erziehungs- und Besserungsanstalt überwiesen werden dürfen, um dort nach dem Ermessen der vorgesetzten Verwaltungsbehörde, jedoch nicht über das vollendete 20. Lebensjahr hinaus, zu verbleiben. Vorausgesetzt ist dabei, daß derartige Besserungsanstalten in der Hauptsache von Privaten oder von mildthätigen Vereinen unterhalten werden, was bis jetzt nur in sehr unzureichender Weise der Fall ist, so daß Deutschland in dieser Hinsicht hinter andern Ländern (England, Holland, Belgien, Frankreich, Schweiz und Nordamerika) weit zurücksteht. V. Der Hauptunterschied in der Gestaltung der in Deutschland gesetzlich vorgezeichneten Strafanstalten ergibt sich aus der Beschaffenheit des Systems, nach welchem die Freiheitsstrafe vollstreckt wird. Ehe eine Beschreibung der sogen. Haftsysteme gegeben werden kann, ist auf diejenigen Einrichtungen einzugehen, welche allen Strafanstalten gemeinsam sind.

Vorsorge für die Gefangenen.

Über den Grundgedanken, welcher in der Vollstreckung der Strafe leitend sein soll, hat das Strafgesetz sich nicht ausgesprochen. Nur das eine ist gewiß, daß jede Anstalt der Anforderung der Sicherheit so weit genügen muß, daß das Entweichen der Gefangenen durch bauliche Einrichtung und geeignete Überwachung wirksam verhindert wird. Abgesehen hiervon, bleibt es ungewiß, ob bei dem Vollzug der Freiheitsstrafen zu allererst dem Zweck der Abschreckung, der vergeltenden Gerechtigkeit oder der Sühne Genüge geschehen soll. Der Persönlichkeit der leitenden Beamten ist in dieser Hinsicht alles überlassen. Ein Gesetz über die Einrichtung des Gefängniswesens fehlt in Deutschland, obwohl der Reichstag ein solches als notwendige Ergänzung der Strafrechtseinheit bezeichnet hat. Zwar ist ein Strafvollstreckungsgesetz von einer Sachverständigenkommission zu Berlin infolge dieser Anregungen ausgearbeitet worden, der Entwurf ist jedoch bisher noch nicht an den Reichstag gelangt. Einzelne Staaten, wie Baden, Bayern u. a., haben eigne Strafvollzugsgesetze, andre, wie Preußen, haben alles den Verwaltungsbehörden überlassen, so daß hier außer dem Namen der Freiheitsstrafe schlechthin alles gesetzlich unbestimmt geblieben ist. Im großen und ganzen überwiegen jedoch in den deutschen Strafanstalten zwei Anschauungen: einmal, daß durch die Gerechtigkeit eine thunlichst gleiche Behandlung aller derselben Strafanstalt zugewiesenen Verbrecher gefordert wird, und sodann, daß die Rücksicht auf die Sicherheit der staatlichen Ordnung gebietet, neben der Empfindlichkeit des Strafübels auch dafür zu sorgen, daß der bestrafte Verbrecher gegen Rückfälligkeit durch bessernde Behandlung sittlich gekräftigt werde. Das mindeste, was der Staat zu leisten hat, ist die Vorsorge, daß der Bestrafte nicht etwa moralisch verschlechtert werde. Daraus ergibt sich: 1) Vorsorge für die leibliche Gesundheit der Gefangenen durch richtige Auswahl der örtlichen Lage der Strafanstalt, durch Beschaffung guten Trinkwassers, der notwendigen Einrichtungen für Ventilation, Heizung, körperliche Reinlichkeit, Bewegung im Freien, Krankenpflege etc. Die Technik des Gefängnisbaues hat zwar große Fortschritte gemacht; doch bestehen in Deutschland noch viele ältere, gesundheitsschädliche Gefängnisse. Die Statistik der Todesfälle und Erkrankungen weist erhebliche Verschiedenheiten in den einzelnen Anstalten auf.

2) Die Vorsorge für die Aufrechthaltung der äußern Ordnung und Disziplin in den Strafanstalten. Der Gefangene muß fühlen, daß er einer Zwangsgewalt unterworfen ist und sich einer in allen Einzelheiten bestimmten Hausordnung fügen muß. Zur Aufrechthaltung der Ordnung hat jede Strafanstalt auch die Befugnis zur disziplinaren Bestrafung Widersetzlicher und Ungehorsamer. Verwerflich ist nach der in Deutschland herrschend gewordenen Anschauung die beschimpfende Prügelstrafe, obwohl sich gelegentlich noch Verteidiger dafür finden und Zuchthausgefangene in einzelnen deutschen Staaten (Preußen, Hamburg etc.) disziplinarisch der körperlichen Züchtigung unterliegen. Am häufigsten werden, je nach der Schwere des Falles, angewendet: Isolierung, Dunkelarrest, Hungerkost, Entziehung erlaubter Genüsse. Je geringer und seltener die Anwendung von Gewaltmitteln erforderlich wird, desto höher ist die Leistungsfähigkeit der Strafanstaltsdirektionen. Am weitesten ist man überall da gekommen, wo man die eigne bessere Einsicht der Gefangenen, ihr Ehrgefühl und die Aussicht auf Besserung ihrer Lage bei gutem Verhalten zur Grundlage der Gefängnisdisziplin genommen hat, womit die nötige Strenge sehr wohl vereinbart werden kann.

3) Die Vorsorge für Beschäftigung und Arbeit der Strafgefangenen. Bei kurz dauernden Freiheitsstrafen ist Beschäftigung der Gefangenen meistenteils unwirksam oder unthunlich. Bei längerer Haft aber ist sie geboten sowohl im Interesse der Sittlichkeit und Erziehung als auch aus verwaltungstechnischen und finanziellen Gründen. Hinsichtlich der Art der für Strafgefangene passenden Arbeitsleistungen kommen hauptsächlich in Betracht: Vorbildung, Gesundheit und Körperkraft der Gefangenen, voraussichtliche Nutzbarkeit des Erwerbszweigs nach der spätern Entlassung, Verwertbarkeit der