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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gefängniswesen

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Gefängniswesen (Vorzüge des progressiven Systems; Gefängnisvereine etc.).

andern Teil für klassifizierte Gemeinschaftshaft und schließlich auch für ländliche Arbeit ausreichende Gelegenheit darbietet. Ebenso kann der Grundgedanke Croftons auch auf kürzere Freiheitsstrafen mit einer einfachen Haftform, sei es der Einzelhaft, sei es der Gemeinschaftshaft, übertragen werden.

Eine Nachbildung des irischen Systems unternahm zuerst der oldenburgische Strafanstaltsdirektor Hoyer in Vechta. Seitdem Mittermaier, obwohl ein Anhänger der Einzelhaft, die Vorzüge des irischen Systems zuerst in Deutschland hervorgehoben und v. Holtzendorff 1859 eine umfassende Darstellung desselben gegeben hatte, ward die Aufmerksamkeit in sämtlichen europäischen Ländern auf Croftons Reformwerk hingelenkt. Überall hatte das irische System einen hartnäckigen Kampf gegen die Anhänger des Einzelhaftsystems zu bestehen. Das Schlußergebnis dieses Streits ist auch im gegenwärtigen Augenblick noch nicht abzusehen. Als im J. 1872, von dem Nordamerikaner Wines angeregt und fast von sämtlichen Staaten Europas und Amerikas beschickt, der internationale Gefängniskongreß in London zusammentrat, zeigte sich jedoch, daß mit alleiniger Ausnahme Belgiens kein Staat seinen Entschluß erklärte, die Einzelhaft für Freiheitsstrafen von längster Zeitdauer anzuwenden. Von den in London anwesenden Fachkennern sprachen sich die Engländer und Amerikaner in der Mehrzahl, die Schweizer und Italiener, die anwesenden Vertreter der österreichischen, schwedischen und dänischen Regierung zu gunsten der im irischen System ausgeprägten Prinzipien aus, während die Stimmen unter den anwesenden Deutschen und Holländern geteilt waren. Das gleiche Verhältnis stellte sich auf dem zweiten internationalen in Stockholm 1878 abgehaltenen Gefängniskongreß heraus.

Die Frage, ob Einzelhaft oder ob Gemeinschaftshaft, ist durchaus relativer Natur, ja nach Lage des Falles ist bald die eine, bald die andre am Platz. Hiernach kommt es darauf an, eine zweckmäßige Abgrenzung zwischen beiden Systemen ausfindig zu machen. Hierbei kann aber, da auch das G. auf sozialen und nationalen Grundlagen ruhen muß, eine allgemein gültige Grenze für alle Völker nicht gezogen werden. Der Südländer verhält sich zu einer ihm zwangsweise auferlegten Einsamkeit ganz anders als der Nordländer. Innerhalb eines und desselben Volkes sind Unterschiede des Geschlechts, der Lebensweise, des Berufs und der Bildung nicht wegzuleugnen. Demnach ist auch die Frage, ob Einzelhaft härter oder milder empfunden werde als Gemeinschaftshaft, gar nicht in allgemeiner Weise zu beantworten. Der gebildete oder der von Schamgefühl lebhaft ergriffene Delinquent wird Einzelhaft der Gemeinschaft mit abgefeimten Verbrechern vorziehen, der ungebildete, träge, unselbständige Mensch in der Gegenwart andrer Verbrecher Trost und Beruhigung finden, während er in der Einzelhaft leicht in den Zustand der Abstumpfung oder nervösen Reizbarkeit verfällt. Einverständnis besteht darin, daß für alle kurzzeitigen Strafen Einzelhaft als Regel angenommen werden sollte, weil die bessernden Wirkungen der religiös-sittlichen Bildung und der Strafarbeit nur bei längerer Dauer zur Geltung kommen können, daher der Gesichtspunkt, eine verderbliche Gemeinschaft abzuschneiden, entschieden vorwiegt. Überwiegend ist außerdem die Ansicht, daß zu lange fortgesetzte Einzelhaft die anfangs günstigen Wirkungen der Isolierung aufhebt und häufig in das Gegenteil verkehrt. Zwar ist es unrichtig, daß trotz passender Auswahl der der Einzelhaft zu unterwerfenden Personen und trotz des Vorhandenseins eines tüchtig geschulten Beamtenpersonals die Isolierung ungewöhnlich große Ziffern des Selbstmordes und der Geisteskrankheit ergebe. Aber die Erfahrung lehrt vielfach, daß Gefangene in längerer Isolierung ihre geistige und moralische Spannkraft einbüßen und auch körperlich zurückgehen. Die Thatsache, daß Einsamkeit leichter Reue wirkt als die Umgebung von Sträflingsgenossen, darf nicht unbenutzt bleiben; aber sie ist auch nicht zu überschätzen. Für ein gutes Gefängnissystem kommt es daher nicht darauf an, die Maximalgrenze zu finden, bis zu welcher ohne groben Nachteil die Mehrzahl der Gefangenen isoliert bleiben kann, sondern vielmehr die Minimalzeit zu ermitteln, innerhalb welcher eine tüchtige Gefängnisverwaltung in den Stand gesetzt wird, die Individualität jedes Bestraften hinreichend kennen zu lernen, mit der natürlichen gesellschaftlichen Thatsache des menschlichen, auch bei dem Gefangenen nicht auszurottenden Gemeinschaftstriebes eine individualisierende Behandlung zu vereinigen und die anfangs Isolierten auf die Bahn einer im Verkehr mit andern fortschreitenden Entwickelung vorzubereiten. Anscheinend unverbesserliche und moralisch gefährliche Individuen müssen dann freilich auf die Dauer von dem Verkehr mit ihresgleichen fern gehalten werden. Was sonst die durchschnittlich wünschenswerte Dauer der Einzelhaft anbelangt, so ist man bisher in Irland mit einem Zeitraum von neun oder acht Monaten ausgekommen; es ist möglich, daß in andern Ländern eine längere oder auch noch kürzere Frist wünschenswert erscheint.

Auch das beste System wird seinen Zweck verfehlen, wenn der reuevolle Delinquent nach seiner Entlassung deswegen arbeitslos umherirren muß, weil er durch allgemeines Mißtrauen der Arbeitgeber zurückgestoßen wird. Schon in den Strafanstalten muß daher der Beweis geliefert werden, daß man bis zu einem gewissen Maß dem Gefangenen bereits vor seiner Entlassung Vertrauen schenken konnte. Daß jemand, innerhalb der Zellenwände abgesperrt, tadellos sich betrug, wird als Grundlage einer für ihn günstigen Vermutung niemals ausreichend befunden werden. Croftons Zwischenanstalten haben die große Bedeutung, die gesellschaftlichen Vorurteile gegen entlassene Verbrecher auf ein billiges Maß zurückzuführen. In gleicher Richtung wirkt auch die bedingte Entlassung. Schließlich bedarf aber trotzdem jede Gefängnisverwaltung der Unterstützung seitens freiwilliger Hilfskräfte zur endgültigen Erfüllung ihrer Aufgabe. Aus diesem Grund muß man darauf Bedacht nehmen, die Bildung von Schutz- und Hilfsvereinen (Gefängnisvereinen) für Entlassene anzuregen. Nach Erduldung langjähriger Strafhaft gleicht der Delinquent einem Genesenden, der durch langes Daniederliegen im Bette die Übung seiner Kräfte verloren hat und noch der Schonung bedarf. In Deutschland blieb das Vereinswesen auf dem Gebiet der Sträflingspflege weit zurück hinter dem in England, Amerika und der Schweiz erreichten Stande. Dennoch bestehen einige Vereine, die sehr Ersprießliches wirken, z. B. die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft und einige Lokalvereine in Baden und Württemberg. Meistenteils aber blieb die Vereinsbildung auf größere Städte (Berlin, München u. a.) beschränkt. Das meiste, was bisher geschah, wurzelt in dem kirchlichen Boden der innern Mission.

Das Deutsche Reich hat sich bisher für die Anwendung eines bestimmten Haftsystems noch nicht entschlossen. Es steht in dem Belieben der einzelnen Staaten, den Strafvollzug bis auf weiteres in Ge-^[folgende Seite]